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Die große Flut

Die große Flut

Titel: Die große Flut
Autoren: Madeleine L'Engle
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Feigenbäumchen beim Brunnen saß ein Pelikan, den Kopf im Gefieder, eine kleine, weiße Federkugel.
    Dennys atmete auf. Er hatte gehofft, einen Seraph zu treffen, hätte mit jedem vorlieb genommen, war aber froh, daß es Alarid war, der Vertraute.
    »Pst!« flüsterte er.
    Der Pelikan rührte sich nicht.
    »Alarid!« rief Dennys leise. »Ich muß mit dir sprechen. «
    Der Pelikan plusterte sich auf, schob den Kopf tiefer unter den Flügel.
    »Alarid!«
    Keine Antwort. Das hieß: geh fort, ich habe dir nichts zu sagen.
    »Ich muß aber mit dir sprechen. Über Yalith.«
    Jetzt endlich blinzelte ihm der weiße Vogel aus dunklen Knopfaugen zu.
    »Bitte!« Dennys wies mit dem Kinn auf den Aasgeier. »Bitte, Alarid.«
    Schwerfällig hüpfte der Pelikan von der Astgabel.
    Der Aasgeier war ein tintenschwarzer regloser Schattenklumpen.
    »Bitte!« beschwor Dennys den Pelikan.
    Der Vogel spreizte die Flügel, weit und hoch, immer höher, wurde zum Seraph. Wortlos wandte sich Alarid ab, schritt in die Wüste hinaus. Dennys folgte ihm.
    Als die Oase hinter ihnen lag und sie den Blicken des Aasgeiers entkommen waren, fragte Alarid: »Was willst du?«
    »Ihr dürft Yalith nicht in der Flut ertrinken lassen.«
    »Warum nicht?«
    »Yalith ist ein guter Mensch. Sie ist die Güte in Person.«
    Alarid beugte das Haupt. »Noch nie gab Güte die Gewähr für Sicherheit.«
    »Aber ihr könnt sie doch unmöglich ertrinken lassen!«
    »Ich habe in dieser Sache nichts zu bestimmen.«
    »Ich hätte mich an Aariel wenden sollen«, sagte Dennys ärgerlich. »Aariel liebt sie.«
    »Er hat nicht mehr zu bestimmen als ich.« Der Seraph kehrte ihm den Rücken.
    Dennys erkannte, daß er Alarid verletzt hatte, wollte aber noch nicht aufgeben. »Ihr seid Seraphim. Ihr verfügt über ungeahnte Kräfte.«
    »Das stimmt. Aber ich sagte dir bereits, daß es gefährlich ist, den Lauf der Dinge zu verändern. Wir greifen nicht in die Geschehnisse ein.«
    »Aber Yalith hat mit den Geschehnissen nichts zu tun!« Dennys‘ Stimme überschlug sich. »Über sie steht kein Wort in der Bibel. Dort geht es nur um Noah und seine Frau und ihre Söhne und deren Frauen.«
    Alarids Flügel zitterten fast unmerklich.
    »Da sie also in der Geschichte nicht vorkommt, ändert es überhaupt nichts, wenn ihr sie vor dem Sterben bewahrt.«
    »Was erwartest du von uns?« fragte Alarid.
    »Du und die anderen Seraphim, ihr werdet nicht ertrinken?« fragte Dennys seinerseits.
    »Nein.«
    »Dann nehmt sie dorthin mit, wo ihr hingeht, um der Flut zu entkommen.«
    »Das ist unmöglich«, sagte Alarid betrübt.
    »Warum?«
    »Weil es unmöglich ist.« Wieder kehrte ihm der Seraph den Rücken.
    »Wohin geht ihr?«
    Alarid wandte sich ihm zu, lächelte, als sei er unbesorgt. »Zur Sonne.«
    Nein. Zur Sonne konnte Yalith wirklich nicht mitkommen. Dennys stöhnte. »Sandy und ich stehen auch nicht in der Geschichte. Aber wir sind hier. Wie Yalith.«
    »So ist es.«
    »Und wenn wir jetzt sterben, ändert das doch genauso den Lauf der Dinge.«
    Alarid sagte: »Ihr müßt in eure Zeit zurückkehren.«
    »Das ist einfacher gesagt als getan. Außerdem wollte ich mit dir nur über Yalith sprechen. Den Nephilim ist es gleich, ob sie ertrinkt. Aber euch sollte es nicht gleichgültig sein.«
    Alarid fragte leise: »Meinst du denn, wir seien nicht bekümmert?«
    Dennys seufzte. »Okay, also ihr seid bekümmert. Trotzdem schaut ihr tatenlos zu. Und wenn es gefährlich wird, fliegt ihr zur Sonne.«
    Wieder erzitterten Alarids Flügel. »Wir bleiben nicht tatenlos. Wir lauschen. Der Sonne. Den Sternen. Dem Wind.«
    Dennys fühlte sich gemaßregelt. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr Zeit genommen, auf den Himmel zu hören. »Und was sagen euch die Sonne, der Wind und die Sterne?«
    »Daß wir ihnen weiterhin lauschen sollen.«
    Eine leichte Brise kam auf. Wusch wie eine Welle von Trauer über Dennys hinweg.
    »Die Sache gefällt mir nicht«, sagte er. »Sie gefällt mir überhaupt nicht.«
    Er hob das Gesicht zu den Sternen. Vernahm das silberhelle Klingen. Fühlte das Silberlicht wie Tau auf den Wangen. Suche nichts zu verstehen. Alles wird gut. Warte. Hab Geduld. Warte. Du mußt nicht immer selbst etwas tun wollen. Warte.
    Dennys stützte den Kopf auf die Knie. Eine wunderbare stille Ruhe durchströmte ihn.
    Mit leisem Flügelschlag schwang sich der weiße Pelikan in das Gewirr der Sterne.
    Die Arbeit an der Arche ging nur langsam voran. Die sengende Hitze trieb Dennys den Schweiß aus allen
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