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Die Gordum-Verschwörung

Die Gordum-Verschwörung

Titel: Die Gordum-Verschwörung
Autoren: Bernd Flessner
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Vormittag, als er zum ersten Mal seine erstaunlich gepflegte Welt unter Deck besucht hatte, waren ihm Zweifel an diesem Urteil gekommen. Eine Forderung Friedrich Nietzsches war unvermittelt aus der Erinnerung aufgetaucht, eine Forderung, die sie irgendwann in der Oberstufe zu diskutieren hatten: Werde, der du bist! Im Bauch seines Kutters hatte er sich gefragt, ob Harm Claasen nicht genau diese Vorgabe erfüllt hatte. Sein schwimmendes Friesenzimmer, kunstvoll gezimmert und zusammengesucht, gedrechselt und geschnitzt, strahlte jedenfalls so etwas wie Zufriedenheit und Harmonie aus. Harms Harmonie. Es war die außergewöhnliche Welt eines Menschen, der nichts anderes wollte, als genau in dieser außergewöhnlichen und selbstgezimmerten Welt zu leben. Die zumeist industriell vorgegebene Ästhetik der anderen interessierte ihn nicht. Er war unabhängig und betrachtete das große Rennen, an dem sich fast alle täglich von Neuem beteiligten, von einer Warte aus, die von ihm selbst definiert worden war. Das halb verfallene Bauernhaus, in dem er ihn zum letzten Mal lebend gesehen hatte, war ein Provisorium gewesen, eine Übergangslösung. Der umgebaute Kutter hingegen hatte den Charakter eines Resultats, eines Ziels. Hier hatte er es und sich erreicht.
    Und was hatte Greven erreicht? Hatte er Nietzsches Vorgabe erfüllt? Sein unrasiertes Gesicht, sein noch nicht ganz kahler Kopf spiegelten sich in dem türkisblauen Wasser, dessen Tiefe sich nur schwer mit den Augen ausloten ließ. Er besah und betastete sein Knie und trank noch einmal auf den nun noch ferneren Freund.

4. Kapitel
     
    Das Feuer war größer als sonst, doch die Glut strahlte Kälte aus. Greven fror, verkroch sich in sein dünnes Sweatshirt. Nur mit Mühe konnte er die Gesichter erkennen, die durch die flirrende Luft zu Zerrbildern deformiert wurden: Harm, Ralf, Margret, Karl. Sie sangen und lachten. Die Melodien kamen ihm bekannt vor, doch den Text konnte er nicht verstehen. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ihn durch Rauch und Flammen an, ihre Münder glichen Fischmäulern, ihre Arme und Hände den Tentakeln eines Kraken. Eine Flasche Rotwein kreiste, ging von Fischmaul zu Fischmaul, fiel in seine Hände, war bis auf den riesigen Boden geleert, kein Tropfen war seiner ausgetrockneten Kehle verblieben. Er hatte Durst. Plötzlich war ihm heiß. Er musste sein Sweatshirt ausziehen. Karl und Harm legten Holz nach, Decksplanken und Teekisten. Immer höher loderten die Flammen auf. Schweiß tropfte in die leere Flasche, die an seinen Händen klebte, die er nicht loslassen konnte. „Do what you like“, grölten jetzt Ralf und Margret, „do what you like, do what you like“. Die Flasche füllte sich immer schneller mit kochendem Schweiß, das brennende Holz knackte und prasselte, knisterte, knackte und prasselte. Und klingelte. Klingelte wieder.
    Benommen langte Greven neben sich, stocherte in der Luft herum, ruderte den Hörer vom Apparat, tastete ihn vom Boden.
    „Ja ...?“
    „Peter hier.“
    „Weißt du eigentlich ...?“
    „Ich weiß, wie spät es ist, sorry. Aber Weert Janssen hat mich gerade angerufen.“
    „Und ...?“
    „Claasens Kutter brennt. Die Feuerwehr versucht zu retten, was zu retten ist.“
    „Bin schon unterwegs.“
    Greven versuchte so vorsichtig und leise wie möglich, der nassgeschwitzten Bettdecke zu entkommen, blieb aber mit seinem rechten Fuß im aufgewühlten Laken hängen und landete polternd auf den Lärchendielen. Zum Glück hatte es das gesunde Knie erwischt, das heftig schmerzte. Durch die Nachricht und den Sturz hellwach, richtete er sich auf und stand schließlich, sich mit den Handflächen über die Augen fahrend, neben dem Futonbett.
    „Sag mal, was ist eigentlich in dich gefahren?“, murrte Mona, die bis tief in die Nacht an der Staffelei gestanden hatte und mehr als ausschlafen wollte. Greven konnte im Deckengebirge nur ihre Haare erkennen.
    „Erst pflügst du stundenlang durchs Bett, dann lässt du dich mitten in der Nacht anrufen und übst auch noch Bungee-Jumping von der Bettkante.“
    „Es ist schon ... nach sechs.“
    „Es ist mitten in der Nacht!“
    „Harms Kutter brennt.“
    „Na, dann sieh mal zu“, brummte Mona und verschwand vollends in einem Tal des Gebirges; Greven fischte seine Klamotten vom Boden und ging ins Bad.
    Mühsam hielt sich das ausgebrannte Wrack der Voodoo Chile über dem Wasser des Greetsieler Hafens. Das nächtliche Feuer hatte ganze Arbeit geleistet; die Aufbauten waren
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