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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Gerit Bertram
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konnte. Im nächsten Moment ließ er es mit Wucht auf die Unterschenkel des Jungen krachen.
    Deutlich war das Geräusch der berstenden Knochen zu hören. Der Schmerzensschrei des Jungen gellte Cristin in den Ohren. Sie wollte fortlaufen und konnte sich doch nicht bewegen, fast so, als hielte ein böser Zauber sie an diesem Ort des Grauens fest. Wieder hob der Henker das Wagenrad hoch über seinen Kopf, abermals sauste es hinab, traf diesmal die gespreizten Oberschenkel des Jungen. Jakob Tieme brüllte auf wie ein wildes Tier. Einen kurzen Moment lang sah Cristin vor ihrem inneren Auge die zermalmten Knochen und die gequetschten Muskeln vor sich. Nur mit Gewalt konnte sie das grauenvolle Bild abschütteln.
    »Mach ein Ende, Henker!«, schrie ein Mann, während der gestreckte Körper des Jungen sich aufbäumte. Blutiger Schaum trat zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Rad sauste hernieder, traf seinen schmalen Brustkorb, brach ihm mehrere Rippen.
    Der Priester schaute zu den Männern und Frauen, die ihre Kinder an sich drückten, und hob die Hände. »So ergeht es allen, die es wagen, Gott zu bestehlen!«
    Cristins Blick fiel auf den Gehilfen des Henkers. Er war ein paar Schritte zur Seite getreten und wandte sich ab.
    Plötzlich war die Stimme des Verurteilten zu hören, verhalten zwar, und doch deutlich zu verstehen. »Verrecken sollt ihr allesamt!«
    Dann brach ihm das Wagenrad den Schädel und ließ ihn für immer verstummen. Ruckartig fuhr Cristin herum, kämpfte sich den Weg frei, stolperte den Hügel hinab und erbrach sich.

2
     
    D ie Augustsonne warf gleißende Lichtpunkte auf die gezackten Giebel und Fenster der hoch aufragenden Häuser und Kirchen der Stadt. Cristin passierte das Burgtor, ein frischer Wind bauschte den dünnen Surcot über ihrer Tunika, als sie am Dominikanerkloster vorbeilief. Über die uralten Mauern drang das Geräusch von Sägen und Hämmern an ihre Ohren. Hatte es überhaupt einmal eine Zeit gegeben, in der hier nicht gebaut wurde? Jäh überfiel sie ein erneuter Würgreiz. Wäre sie doch nur nicht den Menschen gefolgt! Sie lehnte sich gegen eine hohe Mauer aus abgebröckelten, verwitterten Ziegelsteinen, die die Hütten der Armen – Dirnen, Bettler und Wakenitzschiffer – vom ehrbaren Teil der Stadt trennte. Cristin schob eine Hand in die weite Ärmelöffnung ihres Surcots und presste sie auf ihren Magen. Der Verurteilte war doch fast noch ein Kind gewesen! Seine Schreie hallten noch in ihr nach. Von weit her hörte sie die Rufe eines Bäckers, der seine Waren lautstark feilbot. Eine Schar Kinder tobte, eine Katze jagend, an ihr vorbei.
    »Ist Euch nicht gut?« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
    Cristin sah geradewegs in das runde Gesicht einer älteren Frau mit einem Brokathut auf dem Kopf. »Es geht schon wieder, danke.« Sie griff nach dem Rosenkranz, den sie stets an ihrem Gürtel bei sich trug.
    »Wart Ihr auch auf dem Köpfelberg?«, fragte die Frau. Kaum verhohlene Neugier klang aus ihrer Stimme.
    »Ja«, erwiderte Cristin und raffte ihr langes Obergewand. »Ich muss weiter. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet?«
    »Diese Brut ist jedenfalls ausgelöscht! Wo kommen wir denn hin, wenn wir zulassen würden, dass die Schätze unseres Herrn geraubt werden!«
    Wortlos wandte Cristin sich ab. Sie fröstelte plötzlich trotz der warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Schon von Weitem erkannte sie die füllige Gestalt von Minna, einer ihrer Spinnerinnen, die vor der Tür der Werkstatt nicht weit vom Ufer der Wakenitz stand und ihr zuwinkte. Cristin versuchte ein Lächeln.
    »Ihr wart lange fort. Habt Ihr alles erledigen können?«
    »Was sagst du?« Cristin nestelte an ihrer Haube herum. Eigentlich hatte sie Stoff bestellen wollen, denn ihre Kleider wurden allmählich eng. Nicht mehr lange, und jeder würde sehen können, dass sie ein Kind erwartete. »Nein, Minna. Ich bin unterwegs aufgehalten worden«, gab sie zerstreut zurück und betrat die Goldspinnerei, die sie mit ihrem fünfzehn Lenze älteren Ehemann Lukas führte. Wie lange hatten sie auf dieses Kind warten müssen! Sie waren beinahe vier Winter verheiratet, und insgeheim hatte Cristin sich so manches Mal gefragt, ob der Samen ihres Mannes nicht schon zu verbraucht war, um ein Kind zeugen zu können. Umso glücklicher waren sie gewesen, als ihre Monatsblutung endlich ausgeblieben war.
    Lukas lächelte. Als sie jedoch näher trat, kniff er die Augen zusammen. »Du bist bleich, mein Lieb! Quält dich
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