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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Gerit Bertram
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wenn sie nun auch noch das Schreiben erlernen wollte. Lukas war augenscheinlich von Cristins rascher Auffassungsgabe überrascht gewesen. An seinen Lippen hatte sie gehangen, wenn er ihr abends Buchstaben aus der dünnen, eng beschriebenen Tierhaut heraussuchte und die dazu gehörenden Laute erklärte. So waren knapp vier Monate ins Land gegangen. Nun, da sie durch die Schwangerschaft zunehmend schwerfällig wurde und die meiste Zeit daheim verbrachte, wollte sie die letzten Wochen bis zur Geburt des Kindes nutzen. Cristin schüttelte ihre Hand aus, um den Krampf in den Fingern zu lösen, und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf die vor ihr liegende Wachstafel.
    Der Blick aus dem Fenster zeigte Cristin blattlose Bäume, die ihre mit Reif bedeckten Äste in den trüben Novembertag reckten und die Menschen daran erinnerten, dass der Winter im Begriff war, Einzug zu halten. Die von ihr im Frühjahr angelegten Kräuterbeete wirkten trist, nur einige wenige Pflänzchen trotzten noch der Kälte. Sie wandte sich wieder der Arbeit zu. Allein das Geräusch der sich drehenden Spinnräder war in der Werkstatt zu hören, und selbst Minna, die sonst so gern schwatzte, schwieg. Cristin saß auf einem Hocker und zupfte Wollfasern, die sie danach über den Spinnrocken zur Spindel führte. Sie ließ den Faden sich drehen und wachsen, während die Handspindel langsam ihren Weg zum Boden hinab fand. Das Spinnen verlief in einem sich stetig wiederholenden Rhythmus. Dies war der Moment, in dem sie meistens zu summen anfing, im Takt der sich zum Boden auf und ab drehenden Spindel. Doch heute fehlte ihr die Lust.
    Schon in wenigen Wochen sollte der bestellte Hochzeitsstaat für Vogt Büttenwart fertiggestellt sein, und es wartete noch viel Arbeit auf die Spinnerinnen. Auf und ab tanzte die Spindel, und wenn man nicht aufpasste, war es leicht, in einem träumerischen Zustand zu versinken. Wie schnell man in einem Moment der Unachtsamkeit aus dem Rhythmus kommen konnte und die Holzspindel auf dem Boden aufschlug und zerbrach, wusste sie aus eigener Erfahrung. Sie heftete den Blick auf die Spindel. Als die Wolle endlich zu Garn verarbeitet war, fühlte sie Erleichterung.
    Cristins Rücken schmerzte. Das Kind war an diesem Tage ungewöhnlich rege, und sie strich über ihren gewölbten Leib, um es zu beruhigen. Schweiß lief ihr in kleinen Rinnsalen über den Nacken und versickerte zwischen ihren Schulterblättern. Es war stickig in der Werkstatt, sie sehnte sich nach frischer Luft und Bewegung. Aber sie wollte Minna, Mirke und Johannes, den neuen Gesellen, nicht im Stich lassen, auch wenn Lukas das völlig anders sah. Ihr Arbeitseifer war ihm nicht nur ein Dorn im Auge, sondern in den letzten Wochen immer wieder Anlass zu kleinen Streitereien gewesen. Sie stand auf, trat an das einzige Fenster, öffnete es. Ein scharfer Wind wehte, und es roch nach dem ersten Schnee. Tief sog sie die Luft ein. Wo Lukas nur blieb. Er war schon kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus gegangen, geschäftliche Besprechungen, hatte er ihr knapp erklärt, inzwischen war es bereits Nachmittag geworden.
    »Keine Sorge, es geht mir gut«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage ihrer Lohnarbeiterin, die skeptisch den Kopf wiegte, als Cristin sich über die feuchte Stirn wischte. Sie setzte eine strenge Miene auf. »Wollt ihr jetzt die Zeit damit verbringen, mich anzustarren? Habt ihr nicht genug zu tun?« Sie schloss das Fenster und ging an ihren Platz zurück.
    Mirke und Minna schauten einander vielsagend an, beugten sich aber stillschweigend über ihre Arbeit. Johannes sortierte Stoffe und Garne im Raum nebenan und summte fröhlich, während Cristin begann, den Kragen des Brautkleides mit feinen Nadeln auf dem Stickrahmen zu befestigen. Ganz vorsichtig, um die Webarbeit des Gewandes nicht zu beschädigen. Die kostbaren Goldfäden, die sie für die Stickerei benötigte, wurden nur im Russenland angefertigt und auf dem Seeweg nach Lübeck gebracht. Das Häutchengold, wie es genannt wurde, war ebenso begehrt wie schwierig herzustellen. Blattgold wurde dafür in Darmhaut gehüllt, gewalzt und in hauchdünne Fäden geschnitten, um dann um Seidenfäden gewickelt und verzwirnt zu werden.
    An diesem Tag wollte sie damit fortfahren, den Kragen mit einem komplizierten Stickmuster zu versehen. Welch Pomp! Der Vogt ließ sich wirklich nicht lumpen. Soll uns nur recht sein, schließlich sichert dieser Auftrag das Geschäft über Monate, überlegte sie. Blattornamente in
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