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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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machen.
    Nachdem er nicht antwortete und ich wegen des Andrangs am Eingang in Eile war, beließ ich es dabei. Ich nahm die Sachen der Herren entgegen und verschwand zwischen den Kleiderbügeln.
    Gegen ein Uhr zog ich mein Bühnenkostüm an, eine sehr dezente Aufmachung, verglichen mit dem, was man in einschlägigen Clubs zu sehen bekam. Es war ein kesser Matrosenanzug – kurzärmlige Bluse, weiße Satinshorts, nachtblaue Seidenschleife um den Hals. Und natürlich war ich auffällig geschminkt. Wahnsinn, wie ich mich damals angemalt habe! Ich zog also meine Nummer mit den Mädchen durch – Liesa hat wieder mal die Hälfte der Tanzschritte vermasselt –, dann war der Knödeltenor an der Reihe. Ich habe die drei Männer gesehen, sie saßen neben der Bühne und bewunderten mit großen Augen unsere entblößten Beine. Mein Geist war nicht der Uninteressierteste! Danach ging ich wieder an meinen Platz an der Garderobe. Der Nachtfalter war ein kleiner Club, man musste überall mithelfen, man tanzte und verkaufte zwischen zwei Auftritten Zigaretten.
    Als Gödel kurz darauf zu mir kam, kicherten meine Freundinnen.
    „Entschuldigen Sie, Fräulein, aber kennen wir uns?“
    „Ich sehe Sie oft in der Langen Gasse.“
    Ich kramte unter meinem Tresen herum, um eine gewisse Haltung zu wahren. Er wartete in aller Seelenruhe.
    „Ich wohne in der Nummer 65, Sie in der 72. Tagsüber bin ich aber anders gekleidet.“
    Ich hatte Lust, ihn zu hänseln, sein Schweigen war anrührend. Er wirkte so unbedarft.
    „Was machen Sie nachts denn immer draußen, außer Ihren Schuhen beim Gehen zuzusehen?“
    „Ich denke beim Spazierengehen gern nach, das heißt … wenn ich gehe, kann ich besser denken.“
    „Und was nimmt Sie so sehr in Anspruch?“
    „Ich bin nicht sicher …“
    „Ob ich es begreife? Wissen Sie, auch Tänzerinnen haben ein Gehirn.“
    „Wahrheit und Unentscheidbarkeit.“
    „Lassen Sie mich raten … Sie sind Philosophiestudent. Sie verschwenden das Geld Ihres Vaters für ein Studium, das zu nichts führt, es sei denn, den Trikotagenfamilienbetrieb zu übernehmen.“
    „Stimmt – fast. Ich interessiere mich für Philosophie, studiere aber Mathematik. Und mein Vater leitet tatsächlich eine Textilfabrik.“
    Er schien erstaunt zu sein, so viel geredet zu haben. Als Parodie eines militärischen Grußes machte er einen Bückling.
    „Ich heiße Kurt Gödel. Und Sie sind Fräulein Adele. Richtig?“
    „Stimmt – fast. Aber Sie können ja nicht alles wissen.“
    Er wich rückwärts zurück, genötigt vom Ansturm der Gäste.
     
    Wie ich gehofft hatte, sah ich ihn zur Sperrstunde des Lokals wieder. Seine kleinen Spielkameraden hatten ihn wohl den Abend über aufgestachelt.
    „Darf ich Sie nach Hause begleiten?“
    „Ich werde Sie am Denken hindern. Ich rede viel.“
    „Das macht nichts. Ich höre eben nicht hin.“
    Wir gingen zusammen und spazierten die Universitätsstraße hinauf. Wir unterhielten uns, genauer gesagt, ich fragte ihn aus. Wir sprachen über Lindberghs Atlantikflug, über Jazz, den er nicht mochte, und über seine Mutter, die er sehr zu lieben schien. Die gewaltsamen Ausschreitungen im Juli des Jahres zuvor erwähnten wir nicht.
    Ich weiß nicht mehr, welche Haarfarbe ich trug, als wir uns kennenlernten – ich habe meine Haare so oft in meinem Leben gefärbt! Ich denke, ich war blond, ich sah ein bisschen aus wie Jean Harlow, aber nicht ganz so ordinär, ich war eleganter. Im Profil ähnelte ich Betty Bronson. Aber wer erinnert sich denn noch an sie? Ich liebte Filmschauspieler! Ich verschlang jede Ausgabe des Kino-Journal . Die gehobene Wiener Gesellschaft, in der Kurt verkehrte, hatte fürs Kino nichts übrig – dort setzte man sich mit Malerei, Literatur und vor allem mit Musik auseinander. Das war mein erster Verzicht: Ich musste ohne ihn ins Kino gehen. Doch zu meiner großen Erleichterung zog er die Operette der Oper vor.
    Ich hatte schon einige Träume begraben müssen: Mit siebenundzwanzig Jahren war ich eine geschiedene Frau. Um der Strenge meiner Familie zu entkommen, hatte ich viel zu jung einen labilen Mann geheiratet. Kaum waren die Jahre der Not und der Inflation mit Kohlrabi, Kartoffeln und Schwarzmarkt vorüber gewesen, hatte die Misere zügig von Neuem begonnen. Ich war ausgehungert, ich wollte feiern, ich hatte mich im Mann geirrt. Ich hatte den Erstbesten genommen, einen Schönschwätzer. Kurt hingegen machte nie Versprechen, die er nicht halten konnte, er war gewissenhaft bis
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