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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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aus dem Schlaf gerissen, überrascht, hier zu sein, an diesem Tisch, plötzlich in diesem Lärm. Im verschütteten Wein suchten sie die Spur einer Idee, die sich verflüchtigt hatte, um schlussendlich – entschlossen, darüber zu lachen –, das Gespräch dort wieder aufzunehmen, wo es begonnen hatte: auf der Höhe meines Dekolletés. Ich war jung, war trunken, teils Schickse, teils Kumpel, ich hatte meinen Platz.
     
    Zu unserem ersten Rendezvous zog ich alle Register. Er hatte mich ins Café Demel eingeladen, ein feines Lokal, in dem die Schönen und Reichen verkehrten. Ich musste den eleganten, Tee schlürfenden Damen nichts neiden: Ein schräger Topfhut verbarg mit seinem diskreten Schatten das Feuermal auf meiner Wange. Meine seidenweiche, cremeweiße neue Bluse schmeichelte sanft meinem Teint – sie hatte mich einen guten Monatslohn gekostet. Mein Vater hätte sich zu Tode aufgeregt, hätte er es gewusst! Ich hatte mir die Stola meiner Freundin Liesa ausgeborgt, sie hatte schon die Schultern aller Mädels im Nachtfalter auf der Jagd nach einem achtbaren Gatten geziert. Ich hingegen verspürte keinerlei Lust, wieder zu heiraten. Mein ehrenwerter Student hielt mir eine Zeit lang die Möchtegernzuhälter im Club vom Leib.
    Wir waren noch beim Auftaktwalzer, die Kreise wurden immer enger. Damals benutzte ich keine Worte wie „konzentrisch“, Liesa hätte mich schief angesehen: „Ich weiß, woher du kommst, Mädchen, mir kannst du nichts vormachen.“ Kurt und ich hatten ein paarmal etwas zusammen getrunken und einige nächtliche Spaziergänge unternommen, bei denen ich ihm ein paar kärgliche Vertraulichkeiten entlockt hatte. Er war im mährischen Brünn geboren, damals k.u.k., später Tschechoslowakei. Da er von Natur aus wenig abenteuerlustig war, hatte er aus Bequemlichkeit Wien als Studienort gewählt, wo sein älterer Bruder Rudolf bereits Medizin studierte. Die deutschsprachige Familie schien unter der Inflation nach dem Krieg wenig gelitten zu haben, die beiden Brüder führten ein sehr komfortables Leben. Kurt war ein schweigsamer Mensch, er entschuldigte sich immer dafür und war verführerisch, ohne es zu wissen. Im Morgengrauen begleitete er die müde Adele nach Hause, im Sonnenlicht hatte er mich noch nie gesehen.
    Im Demel hatte er einen Tisch im hinteren Saal gewählt. Ich klapperte mit den Absätzen und ging, mich in den Hüften wiegend, zwischen den weiß gedeckten Tafeln hindurch zu seinem Tisch. Er hätte mich mit aller Muße genau mustern können, wäre er nicht in seine Lektüre vertieft gewesen. Als er den Kopf vom Buch hob, war ich wieder einmal erstaunt, wie jung er war. Er war so glatt, hatte eine Babyhaut. Sein Haar war natürlich ordentlich gekämmt, der Anzug makellos. Er hatte nichts von diesen Filmschauspielern, über die wir im Club in unserer Garderobe kicherten – Kurts Schultern waren für die Büroarbeit gemacht, nicht für den Rudersport. Dennoch war er charmant. Ein Blick voller Sanftheit, die Augen von einem unglaublichen Blau. Diese Freundlichkeit war zwar nicht gespielt, aber sein Fokus richtete sich nicht auf sein Gegenüber, sondern tief ins Innere seiner selbst.
    Kaum hatten wir einander begrüßt, kam gleich eine der „Demelinerinnen“, wie die Servierdamen im Demel genannt werden, in strengem Schwarz, um unsere Bestellung aufzunehmen, und ersparte uns einen mühsamen Gesprächsbeginn. Ich nahm ein Veilchensorbet und dachte mit Bedauern an die üppigen Torten, die am Tresen ausgestellt waren, aber ein erstes Rendezvous war nicht dazu angetan, dass ich meine Naschhaftigkeit zur Schau stellte. Vor der Konditoreikarte verfiel Kurt in tiefe Nachdenklichkeit. Geduldig beantwortete die Serviererin seine unzähligen Fragen. Die detaillierte Beschreibung all dieser süßen Leckereien regte meinen Appetit an. Ich bestellte noch ein Sahnekipferl dazu – zum Teufel mit den guten Manieren! Kurt hätte mich eben nicht warten lassen sollen! Am Ende begnügte er sich mit einem Tee. Die Demelinerin entschwebte erleichtert.
    „Wie haben Sie Ihren Nachmittag verbracht, Herr Gödel?“
    „Ich war bei einem Treffen des Kreises.“
    „Ein Kreis? Wie ein englischer Club?“
    Mit steifem Finger schob er seine Brille nach oben.
    „Nein, es ist ein Diskussionszirkel, der von den Professoren Moritz Schlick und Hans Hahn gegründet wurde. Hahn wird mit Sicherheit mein Doktorvater.“
    „Ich sehe es vor mir – Sie verdauen, während Sie in ausladenden Ledersesseln die Holzvertäfelung
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