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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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schwaches Herz.
    „Glauben Sie, ich verstecke Kurt Gödels Nachlass in meinem Nachtkästchen, Miss?“
    „In Ihrem Zimmer lässt es sich allem Anschein nach gut leben.“
    „Es ist ein Ort zum Sterben, nicht zum Leben.“
    Anna bekam immer mehr Lust auf eine schöne Tasse Tee.
    „Ich bin bereit, mit Ihnen zu sprechen, aber verschonen Sie mich mit dem Mitleid junger Leute! Verstanden?“, schob Adele auf Deutsch nach.
    „Ich war einfach nur neugierig. Ich habe mir Ihre Fotos angeschaut. Daran ist nichts Verwerfliches.“
    Sie ging zu dem Bild Adeles als junger Frau.
    „Sie waren schön.“
    „Und das bin ich jetzt nicht mehr?“
    „Ich erspare Ihnen das Mitleid junger Leute.“
    „Touché! Ich war zwanzig, als mein Vater dieses Foto geschossen hat. Er war Fotograf von Beruf. Meine Eltern hatten einen kleinen Laden in Wien gegenüber jenem Haus, in dem mein zukünftiger Mann wohnte.“
    Adele nahm Anna das Bild aus der Hand.
    „Ich kann mich nicht erinnern, diese Frau gewesen zu sein.“
    „Das geht mir manchmal genauso.“
    „Es muss an der Frisur liegen, die Mode ändert sich ja so schnell.“
    „Manchmal sehen die Menschen auf Fotos aus wie Angehörige einer anderen Spezies.“
    „Ich gehöre nun einer anderen Spezies an. Man nennt sie taktvoll ‚das Alter‘.“
    Anna schien den Aphorismus still anzuerkennen. Sie suchte eine Überleitung, um den wirklichen Grund ihres Besuchs anzusprechen.
    „Ich weiß immer alles besser, nicht wahr? Das lieben die Alten. Je weniger Sicherheiten wir haben, desto mehr schlagen wir sie aus dem Feld. Damit kaschieren wir die Angst.“
    „Man spielt in jedem Alter den Besserwisser, es gibt immer jemanden, der jünger ist als man selbst.“
    Hinter Adeles Lächeln konnte Anna ein wenig von dem strahlenden jungen Fräulein entdecken, das in dieser fetten, harten Frau steckte.
    „Mit der Zeit nähert das Kinn sich der Nase an. Das Alter verleiht einem eine zweifelnde Miene.“
    Aus Reflex berührte Anna ihr Gesicht.
    „Sie sind noch zu jung, um das bestätigen zu können. Wie alt sind Sie, Miss Roth?“
    „Nennen Sie mich bitte Anna. Ich bin achtundzwanzig.“
    „In Ihrem Alter war ich verliebt. Sind Sie es?“
    Die junge Frau antwortete nicht. Adele sah sie mit ganz neuer Zärtlichkeit an.
    „Wollen Sie eine Tasse Tee, Anna? Er wird in einer halben Stunde im Wintergarten serviert. Ein paar alte Schachteln mehr werden Sie wohl ertragen. ‚Wintergarten‘, diese geschwollene Bezeichnung steht für eine scheußliche Veranda voller Plastikpflanzen. Als hätte keiner von uns einen grünen Daumen! Also, woher kommen Sie? Letztes Mal sind Sie meiner Frage ausgewichen. Reisen Sie oft nach Europa? Waren Sie schon einmal in Wien? Ziehen Sie endlich diese Jacke aus! Sie steht Ihnen überhaupt nicht. Ist Beige gerade in Mode? Wo wohnen Sie? Wir hatten ein Haus im Norden von Princeton, gleich beim Grover Park.“
    Anna zog ihre Weste aus, im Fegefeuer war es sehr heiß. Wenn sie einen Pakt schließen müsste – die Lebensgeschichte der alten Dame gegen ihre eigene –, dann würde sie ewig durchhalten.
    Adele war enttäuscht, als sie erfuhr, dass ihre Besucherin noch nie in Wien gewesen war, mit ihrem Geschenk aber war sie zufrieden: ihr Lieblingsbourbon.

4.
1928
Der Wiener Kreis
    „Was bist du für ein Vogel, wenn du nicht fliegen kannst?“…
„Was bist du für ein Vogel, wenn du nicht schwimmen kannst?“
Sergei Prokofjew, Peter und der Wolf
     
     
    Wien hat uns einander nähergebracht. Meine Stadt war von einem glühenden Fieber ergriffen, sie brodelte vor wilder Energie. Philosophen dinierten mit Tänzerinnen, Dichter mit Großbürgern. Mitten aus einer unvorstellbaren Masse gelehrter Genies lachten einem Kunstmaler entgegen. Dieses hübsche Völkchen redete unaufhörlich, es drängte zur Lust, kein Vergnügen wollte es sich entgehen lassen: Frauen, Schnaps und den reinen Gedanken. Der Jazzvirus hatte Mozarts Wiege angesteckt – zu Negerrhythmen beschworen wir die Zukunft und läuterten die Vergangenheit. Kriegerwitwen verprassten ihre Pension am Arm junger Gigolos. Die Überlebenden aus den Schützengräben öffneten Türen, die bislang fest verschlossen gewesen waren. Ein letzter Tanz, ein letztes Glas vor der Sperrstunde. Ich hatte strahlende Augen, schöne Beine, ich hörte Männern gern zu. Ich konnte sie zum Lachen bringen und mit einem Wort einen von Alkohol oder Überdruss verirrten Geist wieder auf die Erde zurückholen. Sie blinzelten, als hätte man sie
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