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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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bestaunen.“
    „Wir treffen uns in einem kleinen Raum im Erdgeschoss des Mathematischen Seminars oder in einem Kaffeehaus. Es gibt keine Ledersessel, und eine Holzvertäfelung wäre mir auch nicht aufgefallen.“
    „Sie reden über Sport und Zigarren?“
    „Über Mathematik, Philosophie. Über Sprache.“
    „Frauen?“
    „Nein, keine Frauen. Oder doch, manchmal kommt Olga Hahn hinzu.“
    „Ist sie schön?“
    Er setzte seine Brille ab und entfernte ein unsichtbares Stäubchen.
    „Sehr intelligent. Lustig. Glaube ich.“
    „Gefällt sie Ihnen?“
    „Sie ist verlobt. Und Sie?“
    „Sie fragen, ob ich verlobt bin?“
    „Nein, was Sie heute Nachmittag gemacht haben.“
    „Wir haben eine neue Nummer geprobt. Kommen Sie, um mich zu sehen?“
    „Das werde ich mir nicht entgehen lassen.“
    Ich bewunderte ausgiebig den Saal.
    „Ein sehr schönes Lokal. Kommen Sie oft hierher, Herr Gödel?“
    „Ja, mit meiner Mutter. Sie schätzt das Gebäck hier.“
    „Bestellen Sie nichts zu essen?“
    „Es gibt zu viel Auswahl.“
    „Ich hätte für Sie bestellen können.“
     
    Die Serviererin stellte Teekanne, Tasse, Zuckerdose und Milchkännchen vor ihn hin. Gleich korrigierte er deren jeweilige Position in Bezug auf das Ganze. Er hielt sich zurück, auch die Lage meines Services zu verändern. Er nahm einen Teelöffel Zucker, strich ihn mit großer Sorgfalt glatt und maß die Menge, bevor er den Löffel wieder in die Dose tauchte und die Operation von Neuem begann. Währenddessen ließ ich mir mein Sorbet schmecken. Kurt schnupperte an seiner Tasse.
    „Stimmt etwas nicht, Herr Gödel?“
    „Sie nehmen hier Wasser auf dem Siedepunkt. Es ist besser, wenn man ein paar Minuten wartet, bevor man die Teeblätter aufgießt.“
    „Sie sind ein bisschen schrullig.“
    „Warum sagen Sie das?“
    Ich lachte in mein Sahnekipferl hinein.
    „Sie haben einen gesunden Appetit. Es ist eine Freude, Ihnen beim Essen zuzusehen, Adele.“
    „Ich verbrenne alles, ich bin immer in Bewegung.“
    „Ich beneide Sie. Ich selbst bin von schwacher Gesundheit.“
    Er lächelte gierig – ich kam mir vor wie ein Strudel im Schaufenster der Konditorei. Ich tupfte mir die Lippen mit der Serviette ab, bevor ich mich in den Tango des näheren Kennenlernens stürzte.
    „Worin genau besteht Ihr Studium?“
    „Ich bereite eine Dissertation in formaler Logik vor.“
    „Da bin ich verblüfft! Kann man Logik auch studieren? Ich dachte, logisches Denken sei eine Eigenschaft, die man von Geburt an hat oder nicht hat.“
    „Nein, theoretische Logik hat nichts mit einer menschlichen Eigenschaft zu tun.“
    „Womit dann?“
    „Wollen Sie wirklich darüber diskutieren?“
    Ich wollte es durchziehen, mit großen Augen.
    „Ich mag es, wenn Sie über Ihre Arbeit sprechen. Es ist so … faszinierend.“
    Liesa hätte die Augen verdreht. Ich blieb bei meiner eigenen Logik: Je größer etwas ist, desto besser funktioniert es. Die Eitelkeit macht die Männer taub, aber gesprächig. Erste Etappe: Lass sie dir erklären, wie das Leben funktioniert.
    Er stellte seine Tasse ab, mit dem Henkel parallel zum Blumenmuster seiner Untertasse, dann änderte er seine Meinung und richtete die Tasse nach ihrer natürlichen Achse aus, nicht ohne vorher eine ganze Runde gedreht zu haben. Ich wartete und hütete mich, meine Gedanken zu verraten: Komm schon, mein kleiner Student! Dem kannst du nicht widerstehen, du bist ein Mann wie jeder andere auch!
    „Die formale Logik ist ein abstraktes System, es wird mit Symbolen formuliert anstelle von natürlicher Sprache, einer Sprache, die wir sprechen, Sie und ich, um zum Beispiel wie jetzt zu diskutieren. Es ist ein universelles Konzept, das man auf alle mathematischen Strukturen anwenden kann. Ohne Chinesisch zu sprechen, könnte ich damit die logische Beweisführung eines Chinesen verstehen.“ 1
    „Und wozu soll das gut sein – abgesehen davon, einen Chinesen zu verstehen?“
    „Wie meinen Sie das: ‚gut sein‘?“
    „Was ist der Zweck der Logik?“
    „Die Beweisbarkeit! Wir suchen formale Logiken, mit denen man endgültige mathematische Wahrheiten aufstellen kann.“
    „Wie ein Kochrezept?“
    Im Licht dieses neuen Tages konnte ich seine Verführungskünste besser entschlüsseln. Er war gar nicht so schüchtern. Nur war ich eben ein einzigartiges Studienobjekt, er wusste nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Da ich unempfänglich war für seine universitäre Karriere, war ich schwerer zugänglich als Studentinnen.
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