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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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Friseurs geraten – sie stank abscheulich nach Haarspray, Ammoniak und widernatürlicher Haarfarbe. „Man darf sich nicht gehen lassen. Sie wissen ja, wie das ist – die Männer!“ Anna drückte ihre Tasche an sich. Sie wollte es lieber nicht wissen. Sie verdrängte verstörende Bilder von welker Haut an welker Haut, von schlaffen Geschlechtsteilen unter vertrockneten Fingern.
    „In der Seniorenresidenz bleiben uns nicht so viele Männer. Kaum mal einer auf sechs Frauen! Ich könnte Ihnen ein paar deftige Geschichten erzählen.“
    „Lieber nicht.“
    Gladys verbarg ihre Enttäuschung nicht – keine Naschereien und auch kein Tratsch und Klatsch, den man sich unter dem Gebiss zergehen lassen könnte. Anna bekam Mitleid mit ihr und brachte das Gespräch wieder in Gang.
    „Und Adele?“
    „Sie lässt nicht mal mehr den Friseur kommen. Aber sie hat ja auch Probleme mit den Haaren, sie fallen ihr büschelweise aus. Sie haben schönes Haar. Ist das Ihre natürliche Haarfarbe?“
    „Ist sie deprimiert?“
    Die alte Dame tätschelte Annas Hand.
    „Adele ist im Foyer. Folgen Sie der Musik! Ich lasse Sie jetzt allein, junge Frau, ich habe eine Verabredung.“
     
    Anna fand das Foyer problemlos. Sie folgte den Klängen einer schwungvollen Melodie, gespielt auf einem schlecht gestimmten Klavier. Die Wände waren mit grellbunten Bildern überzogen wie mit Pocken. Adele thronte in ihrem Rollstuhl und schlug mit dem Fuß den Takt. Als sie Anna entdeckte, legte sie einen Finger an die Lippen. Sie trug noch immer ihre Haube, eine dicke Wollweste, die im vorigen Jahrhundert glanzvolle Tage gesehen haben musste, und weiche Pantoffeln. Anna wählte den Stuhl aus, der Adele am nächsten stand – rosa wie für eine werdende Mutter: Anfang und Ende des Lebens in Pastellfarben.
    Der Pianist, verglichen mit dem vorherrschenden Durchschnittsalter ein Jugendlicher, drehte sich beim Schlussakkord um. Er hatte eine Hasenscharte und ein hängendes Lid, das andere Auge blickte zärtlich. Er küsste Adele auf die Wange, bevor er sich entfernte.
    „Jack ist der Sohn einer Oberschwester. Er ist behindert, aber charmant.“
    „Was hat er gespielt? Diese Melodie habe ich schon einmal gehört.“
    „Ich bin die lustige Witwe eines Mannes, der für Offenbach geschwärmt hat.“
    Anna kniff ihren Po zusammen, der auf dem Kunstlederbezug rutschte.
    „Humor ist überlebenswichtig, Miss. Vor allem hier.“
    „Mit Kummer geht jeder auf seine Weise um.“
    „Schmerz ist keine Verhandlungsmasse. Wenn man untergeht, geht man nicht damit um, sondern man versucht, wieder hochzukommen.“
    „Oder man ertrinkt.“
    „Sie scheinen auf diesem Gebiet Expertin zu sein. Sie sind ja ganz steif, entspannen Sie sich.“
    Für Anna gab es nichts Nervtötenderes als die Aufforderung, sich zu entspannen. Für eine Witwe war Adele richtig fit, Anna durchschaute sie nicht. Sie war noch nie besonders gut darin gewesen, das Verhalten von Menschen zu entschlüsseln, und überdies entsprach die alte Dame keinem einzigen Schema, das sie sich auf ihre formelhafte Weise zurechtgelegt hatte. Sie hätte sich gern wieder hinter ihrer üblichen Reserviertheit verschanzt, aber sie hatte weder die Zeit noch das Talent für taktische Ausflüchte.
    „Wollten Sie nicht mit mir reden? Sie haben mich am Eingang warten lassen.“
    „Machen Sie mir eine Szene?“
    „Das würde ich mir nie erlauben.“
    „Das ist aber schade. Bringen Sie mich bitte auf mein Zimmer zurück.“
    Anna gehorchte, aber der Rollstuhl war blockiert.
    „Die Bremse, junge Frau.“
    „Tut mir leid.“
    „Streichen Sie diese Formulierung aus Ihrem Wortschatz.“
    Adele gehörte zu jenen Frauen, die sich nicht für ihre Existenz entschuldigten. Schweigend gingen sie durch den Flur. Die Wände waren von einer lahmen Fototapete mit Herbstwaldmotiv bedeckt. Ein Rebell hatte in einer Ecke heimlich begonnen, auf der Suche nach einem nicht vorhandenen Ausweg eine Schneise zu schlagen.

6.
1929
Offene Fenster, selbst im Winter
    „Zwischen dem Penis und der Mathematik …
da gibt es nichts! Nichts! Nur Leere!“
Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht
     
     
    Nach manchen Liebesnächten sollte ich Kurt meine Lust beschreiben. Er wollte sie messen, definieren, wollte verifizieren, ob ihr Ausmaß bei mir anders war als bei ihm. Als hätten „wir Frauen“ Zugang zu einem anderen Reich. Ich tat mich schwer, ihm zu antworten, zumindest mit der erforderlichen Genauigkeit.
    „Du wirst wieder ein
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