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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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Er musste Schritt für Schritt vorgehen und jede Etappe auswerten. Ein Zufall, ein Spaziergang, zwei Spaziergänge, ein Tee: Was soll ich mit ihr reden? Ich lasse sie reden. Wie er mir später gestand, wandte er für gewöhnlich eine ganz andere Eroberungskunst an. Er verabredete sich mit jungen Frauen in einem Seminarraum der Universität, wo eine andere Studentin arbeitete, die wiederum das wirkliche Objekt seiner Begierde war. Eifersucht, Konkurrenz, Billard an die Bande, angewandte Mathematik.
    „Mit Ihrer Logik können Sie nicht alles beweisen, oder? Kann man zum Beispiel Liebe beweisen?“
    „Um etwas zu beweisen, muss man erstens die Fragestellung ganz präzise formulieren und das Problem in kleine, stabile und unveränderliche Einheiten zerlegen. Zweitens kann man nicht alles auf dieses Gebiet übertragen, das wäre inkorrekt. Die Liebe unterliegt keinem formalen System.“
    „Ein formales System?“
    „Das ist eine streng objektive mathematische Sprache. Sie basiert auf der Gesamtheit der Axiome. Die Liebe ist definitionsgemäß subjektiv. Es gibt kein Ausgangsaxiom.“
    „Was ist ein Axiom?“
    „Eine grundlegende Wahrheit, die als beweislos vorausgesetzt wird. Darauf bauen komplexere Erkenntnisse wie zum Beispiel Theoreme.“
    „Wie ein Ziegelstein?“
    Die Teetasse drehte drei weitere Runden.
    „Wenn Sie so wollen.“
    „Ich werde Ihnen nun Adeles erstes Theorem beibringen: In der Liebe ist eins und eins alles, und zwei minus eins ist nichts.“ 2
    „Das ist kein Theorem, sondern eine Vermutung, solange sie nicht bewiesen ist.“
    „Und was machen Sie mit Vermutungen, die sich nicht beweisen lassen? Schicken Sie diese auf den Friedhof der Vermutungen?“
    Er schenkte mir kein Lächeln. Ich hörte an dieser Stelle mit den Spitzfindigkeiten auf, um in die zweite Etappe einzutreten: das Einheizen. Provokation bringt einen dem Subjekt näher.
    „Ich bin anderer Meinung als Sie. Die Liebe ist in all ihren Wiederholungen höchst berechenbar. Wir alle erleben eine logische Kette: Begehren, Lust, Leiden, das Sterben der Liebe, Abneigung und so weiter. Das alles ist nur scheinbar chaotisch oder persönlich.“
    Ich betonte absichtlich die Worte „Lust“ und „Leiden“.
    „Sie sind Positivistin, ohne es zu wissen, Adele. Das ist erschreckend.“
    Er stieß ein schrilles Quieken aus wie eine Maus. Hatte dieser Mann denn nie das Lachen gelernt?
    „Wollen Sie Professor werden, Herr Gödel?“
    „Gewiss. In ein paar Jahren bin ich sicherlich habilitiert und Privatdozent.“
    „Die armen Studenten!“
    Positivistin! Da konnte er mich ja gleich eine Bolschewikin schimpfen! Ich beschloss, diesen Sack voller Sicherheiten ein wenig durchzuschütteln. Dritte Etappe: kalte Dusche – ein brutales Abkühlen des Subjekts.
    Und ich ließ ihn sitzen.
     
    Lange habe ich meinen kleinen Auftritt nicht genossen. Das Klappern meiner Absätze ging im Lärm der Fiaker auf dem Michaelerplatz unter. Ich trat in Pferdeäpfel. Ich wetterte gegen die ganze Welt, gegen Pferde und Männer. Dann verfluchte ich mich selbst. Gewiss, es war mir gelungen, seine blauen Augen auf mich zu ziehen. Doch ich hatte darin keine Bewunderung, sondern Bestürzung gesehen. Ich hatte ein Kleid anprobiert, das zu schön für mich war und das ich mir nicht leisten konnte. Ich bereute es bereits.

5.
    Anna nutzte die Abwesenheit des Zerberus an der Pforte, um einen Blick in das Besucherbuch zu werfen. Ihr fielen die wenigen Anmeldungen unter Adele Gödels Namen in den letzten Wochen auf: nur Frauen und, nach den Vornamen zu urteilen, nicht mehr die jüngsten.
    Sie legte das Heft wieder an seinen Platz und ging dann zu ihrem Stuhl in strategischer Position. Sie war zu früh gekommen. Wie immer müsste sie sich gedulden. In diesem Herbst könnte sie einen neuen Eintrag in der schwarzen Liste idiotischer Aufgaben machen: den Anfang eines Klebebandes auf der Rolle finden; auf der Bank Schlange stehen; im Supermarkt die schlechteste Kasse wählen oder die Autobahnausfahrt verpassen. Und jetzt: auf Adele warten. Die Summe aller kurzen verschwendeten Zeitspannen und der Verspätungen anderer kam einem vergeudeten Leben gleich.
    Vom Ende des Flurs stürzte Gladys auf sie zu. Für ihr Alter war sie erstaunlich vital. Hemmungslos wühlte sie in Annas Reisetasche und war enttäuscht: Die Besucherin hatte dieses Mal nichts mitgebracht.
    „Sie sind ja richtig fesch, Gladys!“ Die winzige Frau im rosa Angorapulli war wohl in die Klauen eines perversen
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