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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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sie aus ihrem Gedächtnis gelöscht glaubte. Ihre Großmutter Josepha hatte auch diesen Lavendelduft hinter sich hergezogen. Anna verdrängte ihre Wehmut – ein Knödel im Hals war ein geringer Preis für einen so vielversprechenden ersten Kontakt mit Adele.
    „Wenn Sie mir wirklich eine Freude machen wollen, Miss Roth, dann bringen Sie mir das nächste Mal eine Flasche Bourbon mit. Hier kann man höchstens Sherry reinschmuggeln. Mir graust vor Sherry! Und die Engländer konnte ich sowieso noch nie ausstehen.“
    „Dann darf ich also wiederkommen?“
    „Kann sein …“, murmelte Adele auf Deutsch.

2.
1928
Damals, als ich schön war
    „Sich verlieben heißt eine Religion schaffen,
deren Gott fehlbar ist.“
Jorge Luis Borges, Neun danteske Essays
     
     
    Ich bemerkte ihn, bevor sein Blick noch auf mich fiel. Wir lebten in derselben Straße in Wien, in der Josefstadt nahe der Universität, er wohnte mit seinem Bruder zusammen, ich bei meinen Eltern. An diesem frühen Morgen kam ich wie immer allein vom Nachtfalter zurück, dem Kabarett, wo ich angestellt war. Ich war nie so naiv gewesen zu glauben, dass die Gäste, die mich nach der Arbeit unbedingt nach Hause begleiten wollten, nicht an mir interessiert gewesen wären. Meine Beine kannten den Weg von allein, dennoch musste ich immer auf der Hut sein. Die Stadt war grau. Damals kursierten schreckliche Geschichten über Banden, die jungen Fräuleins auflauerten und sie in Bordelle im Sündenbabel Berlin verkauften. Ich, Adele Porkert, war zwar kein junges Mädchen mehr, sah aber aus wie zwanzig, also drückte ich mich an den Hausmauern entlang und spähte misstrauisch in die Schatten. „Porkert, in fünf Minuten bist du raus aus diesen verdammten Schuhen und in zehn Minuten liegst du in deinem Bett!“, sagte ich mir. Kurz vor dem Wohnhaus meiner Eltern sah ich eine Gestalt auf dem Bürgersteig gegenüber – einen mittelgroßen Mann in einem dicken Mantel, einen dunklen Filzhut auf dem Kopf, das Gesicht von einem Schal verdeckt. Er hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und ging langsam, als würde er einen Verdauungsspaziergang machen. Ich beschleunigte meinen Schritt, mein Bauch war ganz verkrampft – und der trog mich selten: Um fünf Uhr früh geht kein Mensch spazieren! In der Morgendämmerung kommt man vielleicht aus einem Club, wenn man der guten Seite der menschlichen Komödie angehört. Oder man geht zur Arbeit. Außerdem würde sich niemand in einer so lauen Nacht dermaßen einmummen. Ich kniff also die Pobacken zusammen, lief schnell die letzten Meter und überlegte, wie meine Chancen standen, die Nachbarn durch meine Schreie zu wecken. In einer Hand hielt ich den Schlüssel, in der anderen ein Säckchen Pfeffer. Meine Freundin Liesa hatte mir gezeigt, wie ich einen Angreifer erst blind machen und ihm dann die Wangen zerkratzen musste. An unserem Wohnhaus angekommen, schlug ich ganz schnell die kleine Holztür hinter mir zu. Hatte ich Schiss gehabt! Ich versteckte mich hinter dem Vorhang meines Zimmers und beobachtete den Kerl – er schlenderte noch immer umher.
    Am nächsten Tag zur selben Zeit ging ich nicht schneller, als ich diesen Geist wieder sah. Von da an traf ich ihn zwei Wochen lang jeden Morgen. Ihm aber schien ich zu keinem Zeitpunkt aufzufallen. Er nahm offenbar überhaupt nichts wahr. Ich wechselte die Straßenseite – ich wollte sichergehen – und streifte ihn. Er ging an mir vorbei, ohne auch nur den Kopf zu heben. Im Club habe ich die Mädchen mit meiner Pfeffersäckchengeschichte richtig zum Lachen gebracht. Dann sah ich ihn nicht mehr wieder. Ich war mal ein bisschen früher, mal ein bisschen später dran gewesen – er hatte sich in Luft aufgelöst.
     
    Bis zu jenem Abend, als er mir an der Garderobe des Nachtfalter seinen dicken Mantel reichte, der für die Jahreszeit viel zu warm war. Der Besitzer des Mantels war ein gut aussehender, dunkelhaariger Mann um die zwanzig mit blassblauen Augen hinter einer strengen Brille mit schwarzem Gestell. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn ansprechen.
    „Guten Abend, der Herr Geist aus der Langen Gasse.“
    Er starrte mich an, als sei ich nicht gescheit, dann wandte er sich wieder den beiden Freunden zu, mit denen er gekommen war. Ich erkannte Marcel Natkin, Kunde im Laden meines Vaters. Sie haben gekichert wie alle jungen Männer, selbst die gebildetsten, wenn sie ein wenig verlegen sind. Er jedenfalls gehörte nicht zu denen, die dem Garderobenfräulein den Hof
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