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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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ihren Bärten und Kleidern strömte der gleiche Geruch wie aus den Gegenständen des Schlosses und aus dem Haar und dem Mund der Großmutter. Das Kind meinte sterben zu müssen, wenn der Geruch nicht aufhörte. Bis zum Wochenende war das Fieber noch immer nicht zurückgegangen, der Puls setzte immer wieder aus. Da telegraphierten sie Nini. Vier Tage vergingen, bis die Amme in Paris eintraf. Der backenbärtige Majordomus erkannte sie am Bahnhof nicht, Nini stellte sich zu Fuß im Palais ein, in der Hand eine gehäkelte Tasche. Sie kam wie ein Zugvogel. Französisch sprach sie nicht, die Straßen kannte sie nicht, und nie konnte sie die Frage beantworten, wie sie in der fremden Stadt das Palais gefunden hatte, in dem das kranke Kind lag. Sie trat ins Zimmer, hob den sterbenden Jungen aus dem Bett; er war schon ganz still, nur seine Augen glänzten. Sie nahm ihn auf den Schoß, umarmte ihn fest und begann ihn leise zu wiegen. Am dritten Tag erhielt das Kind die Letzte Ölung. Am Abend kam Nini aus dem Krankenzimmer und sagte auf ungarisch zur Gräfin: »Ich glaube, er kommt durch.«
    Sie weinte nicht, sie war nur sehr müde, weil sie sechs Tage nicht geschlafen hatte; sie holte aus der gehäkelten Tasche Speisen aus der Heimat hervor und begann zu essen. Sechs Tage lang hielt sie mit ihrem Atem das Kind am Leben. Die Gräfin kniete weinend und betend vor der Tür. Alle waren sie da, die französische Großmutter, die Dienerschaft, ein junger Priester mit schrägen Augenbrauen, der zu jeder Tageszeit im Haus ein und aus ging. Die Ärzte kamen immer seltener. Zusammen mit Nini fuhren sie in die Bretagne; die französische Großmutter blieb betroffen und beleidigt in Paris zurück. Es wird doch wohl niemand ausgesprochen haben, warum das Kind krank geworden war? Natürlich nicht, aber man wusste es doch: Der Junge brauchte Liebe, und als sich die Fremden über ihn gebeugt hatten und als von überallher der unerträgliche Geruch geströmt war, da hatte es zu sterben beschlossen. In der Bretagne sang der Wind, und zwischen altem Gestein rauschte die Flut. Rote Felsen ragten aus dem Meer. Nini war ruhig, sie betrachtete das Meer und den Himmel lächelnd, als sei sie mit alledem schon vertraut. An den vier Ecken des Schlosses standen uralte runde Türme aus unbehauenem Gestein, vor langer Zeit hatten die Ahnen der Gräfin hier nach Surcouf, dem Piraten, Ausschau gehalten. Der Junge war bald sonnengebräunt, und er lachte viel. Jetzt hatte er keine Angst mehr, er wusste, dass sie beide, Nini und er, die Stärkeren waren. Sie saßen am Strand, die Rüschen an Ninis dunkelblauem Kleid flatterten im Wind, alles roch nach Salz, nicht nur die Luft, sondern auch die Blumen. Morgens, wenn sich die Flut zurückzog, sah man in den Vertiefungen des roten Ufergesteins Meerspinnen mit haarigen Beinen, rotbäuchige Krebse, gallertartige Sterne. Im Schlosshof stand ein jahrhundertealter Feigenbaum, einem fernöstlichen Weisen gleich, der nur noch ganz einfache Geschichten erzählt. Unter seinem dichten Laub lag süße, duftende Kühle. In den Mittagsstunden, da das Meer dumpf grollte, saßen hier schweigend die Amme und das Kind.
    »Ich will Dichter werden«, sagte der Junge einmal und blickte schräg auf.
    Er schaute auf das Meer, seine blonden Locken flatterten im warmen Wind, er blickte mit halbgeschlossenen Augen forschend in die Ferne. Die Amme umarmte ihn und presste seinen Kopf an ihre Brust. »Nein, du wirst Soldat.«
    »Wie Vater?« Das Kind schüttelte den Kopf. »Vater ist auch Dichter, weißt du das nicht? Er denkt immer an anderes.«
    »Das stimmt«, sagte die Amme seufzend. »Geh nicht an die Sonne, mein Engel, du bekommst sonst Kopfschmerzen.«
    Lange saßen sie so unter dem Feigenbaum. Sie lauschten auf das Meer: ein vertrautes Rauschen. So rauschte zu Hause der Wald. Das Kind und die Amme dachten daran, dass auf der Welt alles zusammengehört.

5

    So etwas kommt den Menschen erst später in den Sinn. Jahrzehnte vergehen, man durchquert ein dunkles Zimmer, in dem jemand gestorben ist, und auf einmal vernimmt man lang verklungene Worte und das Rauschen des Meeres. Als ob jene paar Worte den Sinn des Lebens ausgedrückt hätten. Später dann hat man immer von anderem geredet.
    Als sie im Herbst von der Bretagne nach Hause fuhren, erwartete der Gardeoffizier seine Familie in Wien. Das Kind wurde zu den Kadetten gegeben. Es bekam einen kleinen Degen, lange Hosen, einen Tschako. Es wurde mit dem Degen gegürtet und zusammen mit
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