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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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erinnerten die ihn an etwas, das man besser vergisst - hatte er die Wand zwischen den beiden Zimmern einreißen lassen. Nur die Säule, die den mittleren Deckenbogen trug, blieb stehen. Das Schloss war zweihundert Jahre zuvor gebaut worden, von einem Heereslieferanten, der den österreichischen Kavalleristen Hafer verkaufte und später geadelt wurde. Der General war hier zur Welt gekommen, in diesem Zimmer. Damals war das hintere, dunklere Zimmer, dessen Fenster auf den Garten und die Betriebsgebäude gingen, das Zimmer seiner Mutter, während dieses hellere, luftigere als Ankleideraum diente. Seit einigen Jahrzehnten nun, nachdem er die Zwischenwand hatte einreißen lassen und diesen Flügel des Gebäudes bezogen hatte, war da anstelle der beiden Zimmer der große, dämmrige Raum. Siebzehn Schritte betrug der Weg von der Tür zum Bett. Und achtzehn Schritte von der gartenseitigen Wand zum Balkon. Genau abgezählte Schritte.
    Wie ein Kranker, der sich an eine bestimmte Raumeinteilung gewöhnt hat, so lebte er hier. Als wäre ihm das Zimmer auf den Leib geschnitten. Es vergingen Jahre, ohne dass er den anderen Flügel des Schlosses betrat, wo ein Salon dem anderen folgte, grüne, blaue, rote Salons mit goldenen Lüstern. Und wo die Fenster auf den Park gingen, auf die Kastanien, die sich im Frühling über die Balkongeländer neigten und mit rosaroten Kerzen und in dunkelgrüner Pracht im Halbkreis die geschwungenen Balustraden umstanden, die ausladende Umfassung des Südflügels, die von dicken Engeln gestützt wurde. Er machte seine Gänge zu den Kellereien oder in den Wald, oder - jeden Morgen, auch im Winter, auch wenn es regnete - zum Forellenteich. Und wenn er nach Hause kam, ging er durch die Vorhalle in sein Zimmer hinauf, und hier nahm er auch die Mahlzeiten ein.
    »Er ist also zurückgekommen«, sagte er jetzt laut, in der Zimmermitte stehend. »Einundvierzig Jahre. Und dreiundvierzig Tage.«
    Diese Wörter schienen ihn auf einmal zu ermüden, als begriffe er erst jetzt, was für eine lange Zeit einundvierzig Jahre und dreiundvierzig Tage sind. Er schwankte und setzte sich in den Ledersessel mit der abgewetzten Lehne. Auf dem Tischchen in Reichweite lag eine silberne Glocke, mit der er klingelte.
    »Nini soll heraufkommen«, sagte er zum Diener. Und dann, höflich: »Ich lasse bitten.«

2

    Nini war einundneunzig Jahre alt. Sie kam unverzüglich. In diesem Zimmer hatte sie den General gewiegt. In diesem Zimmer hatte sie gestanden, als der General geboren wurde. Sechzehn war sie gewesen und sehr schön. Kleingewachsen, aber so muskulös und ruhig, als wüsste ihr Körper um ein Geheimnis. Als wäre in ihren Knochen, ihrem Blut, ihrem Fleisch etwas verborgen, das Geheimnis der Zeit oder des Lebens, das niemandem gesagt, das in keine Sprache übersetzt werden kann, weil Wörter ein solches Geheimnis nicht fassen. Sie war die Tochter des Postbeamten vom Dorf, mit sechzehn bekam sie ein Kind, und nie erfuhr jemand, von wem es war. Als ihr Vater sie aus dem Haus prügelte, kam sie zum Schloss und stillte das Neugeborene, denn sie hatte viel Milch. Sie besaß nichts außer dem Kleid, das sie am Leibe trug, und eine Haarlocke ihres toten Kindes in einem Briefumschlag. So stellte sie sich im Schloss ein. Sie war zur Geburt gekommen. Seinen ersten Schluck Milch hatte der General aus Ninis Brust gesogen.
    So lebte sie im Schloss, fünfundsiebzig Jahre lang, schweigend. Und lächelnd. Ihr Name flog durch die Zimmer, als machten die Schlossbewohner einander auf etwas aufmerksam. »Nini«, sagten sie. Als meinten sie: »Wie seltsam, dass es auf der Welt noch etwas anderes als Selbstsucht, Leidenschaft, Eitelkeit gibt, Nini ...« Und da sie stets am rechten Ort war, sah man sie nie. Und da sie stets guter Laune war, fragte man sie nie, wie sie guter Laune sein konnte, wenn doch der Mann, den sie geliebt hatte, weggegangen und das Kind, das ihre Milch hätte trinken sollen, gestorben war. Sie stillte den General und zog ihn auf, und dann vergingen fünfundsiebzig Jahre. Zuweilen schien die Sonne über dem Schloss und der Familie, und in diesen Augenblicken allgemeinen Strahlens stellte man überrascht fest, dass Nini ja lächelte. Dann starb die Gräfin, die Mutter des Generals, und Nini wusch mit einem essiggetränkten Lappen die kalte, weiße, schweißverklebte Stirn der Toten. Und eines Tages brachten sie den Vater des Generals auf einer Bahre nach Hause, denn er war vom Pferd gefallen. Er lebte noch fünf Jahre lang,
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