Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
und Nini pflegte ihn. Sie las ihm französische Bücher vor, las die Buchstaben einzeln, weil sie die Sprache nicht konnte, und so reihte sie eben ganz langsam Buchstaben an Buchstaben. Aber auch so verstand es der Kranke. Dann heiratete der General, und als das Paar von der Hochzeitsreise heimkehrte, stand Nini am Tor und erwartete sie. Sie küsste der neuen gnädigen Frau die Hand und überreichte ihr Rosen. Wieder lächelnd. Dieser Moment kam dem General manchmal in den Sinn. Dann starb die Frau, nach zwölf Jahren, und Nini pflegte das Grab und die Kleider der Toten.
    Im Haus hatte sie weder Rang noch Titel. Man spürte nur, dass sie Kraft hatte. Außer dem General wusste niemand, dass Nini über neunzig war. Man sprach nicht darüber. Ninis Kraft durchströmte das Haus, die Menschen, die Wände, die Gegenstände, so wie die verborgene Elektrizität auf der kleinen Bühne des wandernden Puppenspielers die Figuren bewegt, den János Vitéz und den Tod. Manchmal hatte man das Gefühl, das Haus und die Dinge könnten, ähnlich wie uralte Stoffe, unter einer Berührung plötzlich zerfallen, sich auflösen, wenn Nini sie nicht mit ihrer Kraft zusammenhielt. Als seine Frau gestorben war, ging der General auf Reisen. Er kehrte nach einem Jahr zurück und bezog sogleich im alten Flügel des Schlosses das Zimmer seiner Mutter. Den neuen Flügel, in dem er mit seiner Frau gelebt hatte, die farbigen Salons mit den schon rissigen französischen Seidentapeten, das große Herrschaftszimmer mit dem Kamin und den Büchern, das Treppenhaus mit den Hirschgeweihen, ausgestopften Auerhähnen und präparierten Gamsköpfen, den großen Speisesaal, durch dessen Fenster man das Tal und das Städtchen und in der Ferne die silbrig-bläulichen Berge sah, die Zimmer seiner Frau und nebenan sein eigenes Schlafzimmer ließ er alle verschließen. Seit zweiunddreißig Jahren, seit dem Tod seiner Frau, seit seiner Rückkehr aus dem Ausland, betraten nur Nini und das Gesinde diese Zimmer, um sie - alle zwei Monate - zu putzen.
    »Setz dich, Nini«, sagte der General.
    Die Amme setzte sich. Im letzten Jahr war sie alt geworden. Nach neunzig altert man anders als nach fünfzig oder sechzig. Man altert ohne Verbitterung. Ninis Gesicht war rosarot und runzelig - edle Stoffe altern so, jahrhundertealte Seide, in die eine Familie ihre ganze Handfertigkeit und alle ihre Träume hineingewoben hat. Im Jahr zuvor war eins ihrer Augen vom Star befallen worden, und das war jetzt grau und traurig. Das andere Auge war blau geblieben, so blau und zeitlos wie ein Bergsee im August. Ein lächelndes Auge. Nini war wie immer dunkelblau gekleidet, in einen dunkelblauen Filzrock und eine schlichte Bluse. Als hätte sie sich während fünfundsiebzig Jahren nie Kleider machen lassen.
    »Konrád hat geschrieben«, sagte der General und hielt nebenbei den Brief hoch. »Erinnerst du dich?«
    »Ja«, sagte Nini. Sie erinnerte sich an alles.
    »Er ist hier, in der Stadt«, sagte der General so leise, wie man eine hochwichtige und streng vertrauliche Nachricht weitergibt. »Er ist im Weißen Adler abgestiegen. Er kommt am Abend hierher, ich lasse ihn abholen. Er wird bei uns essen.«
    »Wo bei uns?« fragte Nini ruhig. Sie ließ ihren blauen Blick, den lebendigen und lächelnden, durch das Zimmer schweifen.
    Seit zwei Jahrzehnten empfingen sie keine Gäste mehr. Die Besucher, die mitunter zum Mittagessen eintrafen, die Herren vom Komitat und von der Stadtverwaltung sowie die Gäste der großen Treibjagden wurden vom Verwalter im Waldhaus empfangen, das zu jeder Jahreszeit bereitstand; Tag und Nacht war alles für den Empfang von Gästen gerüstet, die Schlafgemächer, die Badezimmer, die Küche, die große Jägerstube, die offene Veranda, die rustikalen Tische. Bei solchen Gelegenheiten saß der Verwalter am Tischende und bewirtete die Jäger und die offiziellen Herrschaften im Namen des Generals. Niemand war darüber beleidigt, man wusste, dass sich der Hausherr nicht blicken ließ. Ins Schloss kam nur der Pfarrer, einmal im Jahr, winters, um am Eingang die Anfangsbuchstaben von Kaspar, Melchior und Balthasar mit Kreide auf den Türsturz zu schreiben. Der Pfarrer, der die Hausbewohner beerdigt hatte. Sonst niemand, nie.
    »Drüben«, sagte der General. »Geht das?«
    »Wir haben vor einem Monat saubergemacht«, sagte die Amme. »Es müsste gehen.«
    »Auf acht Uhr. Geht das? ...« fragte er aufgeregt und irgendwie kindlich gespannt, wobei er sich im Sessel vorbeugte. »Im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher