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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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hier, mit den drei Falken mit der Falkenhaube. Hier, im Jagdhaus, verbrachte der Vater des Generals seine Zeit. Die Schlossbewohner sahen ihn nur beim Essen. Im Schloss waren die Wände in Pastell gehalten, von hellblauen, hellgrünen, blassroten goldgestreiften Seidentapeten bedeckt, wie sie in den Webereien in der Umgebung von Paris hergestellt wurden. Jedes Jahr wählte die Gräfin in den französischen Fabriken und Geschäften persönlich Tapeten und Möbel aus - jeden Herbst, wenn sie auf Familienbesuch in ihre Heimat fuhr. Nie ließ sie diese Reise aus. Sie hatte ein Recht darauf, es war im Ehevertrag festgelegt worden, als sie den fremden Gardeoffizier heiratete.
    »Vielleicht war es wegen der Reisen«, dachte der General.
    Er dachte es, weil sich die Eltern nicht verstanden hatten. Der Gardeoffizier ging auf die Jagd, und da er die Welt, in der es auch noch anderes und andere gab - fremde Städte, Paris, Schlösser, fremde Sprachen und Sitten -, nicht ausrotten konnte, so tötete er eben die Bären, die Rehe und Hirsche. Ja, vielleicht war es wegen der Reisen. Er stand auf und stellte sich vor den bauchigen weißen Porzellanofen, der einst das Schlafzimmer seiner Mutter beheizt hatte. Es war ein großer hundertjähriger Ofen, aus dem die Wärme strömte wie die Gutmütigkeit aus einem dicken, trägen Menschen, der seinen Egoismus mit einer wohlfeilen guten Tat mildern möchte. Es war eindeutig, dass die Mutter hier gefroren hatte. Dieses Schloss mitten im Wald, mit seinen gewölbten Zimmern, war ihr zu dunkel: daher die hellen Tapeten an den Wänden. Und sie fror, weil es im Wald immer windig war, auch sommers, ein Wind, der wie die Bergbäche roch, wenn sie im Frühling von der Schneeschmelze anschwellen und über die Ufer treten. Sie fror, und man musste fortwährend den weißen Ofen heizen. Sie wartete auf ein Wunder. Sie war nach Osteuropa gekommen, weil die Leidenschaft, von der sie angerührt war, sich als stärker erwiesen hatte als ihre Vernunft. Der Gardeoffizier hatte sie während seines diplomatischen Dienstes kennengelernt. Er war in den fünfziger Jahren bei der Pariser Gesandtschaft Kurier gewesen. Sie lernten sich auf einem Ball kennen, und irgendwie war diese Begegnung unvermeidlich. Die Musik spielte, und der Gardeoffizier sagte auf französisch zu der Grafentochter: »Bei uns sind die Gefühle stärker, endgültiger.« Es war der Gesandtschaftsball. Draußen war die Straße weiß, es schneite. In diesem Augenblick hielt der König Einzug im Saal. Alle verneigten sich. Der König trug einen blauen Frack mit weißer Weste und hob sein goldenes Lorgnon mit einer langsamen Geste vor die Augen. Als sich die beiden aus dem tiefen Hofknicks aufrichteten, blickten sie einander in die Augen. Da wussten sie schon, dass sie miteinander leben mussten. Sie lächelten blass und verlegen. Im Nebenzimmer spielte die Musik. Die junge Französin sagte: »Bei Ihnen, wo ist das? ...«, und lächelte kurzsichtig. Der Gardeoffizier nannte seine Heimat. Das erste vertrauliche Wort, das zwischen ihnen fiel, war der Name der Heimat.
    Sie kamen im Herbst zu Hause an, fast ein ganzes Jahr später. Die fremde Frau saß unter Schleiern und Decken ganz tief drinnen in der Kutsche. Sie fuhren über die Berge, durch die Schweiz und Tirol. In Wien wurden sie von Kaiser und Kaiserin empfangen. Der Kaiser war wohlwollend wie in den Schulbüchern. Er sprach: »Nehmen Sie sich in acht! Im Wald, wohin er sie mitnimmt, gibt es Bären. Auch er ist ein Bär.« Und er lächelte. Alle lächelten. Es war ein großer Gunstbeweis, dass der Kaiser mit der französischen Frau des ungarischen Gardeoffiziers scherzte. Sie erwiderte: »Ich werde ihn mit Musik zähmen, Majestät, so wie Orpheus die wilden Tiere gezähmt hat.« Sie fuhren durch obstduftende Wiesen und Wälder. Als sie die Grenze passierten, verschwanden Berge und Städte, und die Frau begann zu weinen. »Chéri«, sagte sie, »mir ist schwindlig. Da ist ja alles endlos.« Die Puszta machte sie schwindeln, diese von der schwebendschweren Herbstluft benommene Einöde, wo die Ernte schon vorbei war, wo sie stundenlang über schlechte Wege fuhren, wo am Himmel nur Kraniche zogen und am Straßenrand die Maisfelder so geplündert dalagen wie nach einem Krieg, wenn die verletzte Landschaft dem abziehenden Heer nachstirbt. Der Gardeoffizier saß mit verschränkten Armen wortlos im Wagen. Zuweilen verlangte er ein Pferd und ritt über lange Strecken neben dem Wagen her. Er blickte auf
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