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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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großen Saal. Jetzt ist es Mittag.«
    »Mittag«, sagte die Amme. »Dann will ich Bescheid sagen. Bis sechs sollen sie lüften, dann den Tisch decken.« Sie bewegte lautlos die Lippen, als berechne sie die Zeit und die Menge der zu erledigenden Dinge. »Ja«, sagte sie dann ruhig und bestimmt.
    Vorgebeugt betrachtete der General sie aufmerksam. Ihrer beider Leben wälzten sich gemeinsam vorwärts, im langsam holpernden Rhythmus sehr alter Menschen. Sie wussten alles voneinander, mehr als Mutter und Kind, mehr als ein Ehepaar. Die Gemeinsamkeit, die sie verband, war vertrauter als jede Art körperlicher Nähe. Vielleicht lag es an der Muttermilch. Vielleicht weil Nini der erste Mensch gewesen war, der den General bei seiner Geburt gesehen hatte, im Augenblick des Geborenwerdens, in Blut und Kot, so wie die Menschen zur Welt kommen. Vielleicht wegen der fünfundsiebzig Jahre, die sie gemeinsam verlebt hatten, unter demselben Dach, dieselben Speisen essend, dieselbe Luft atmend. Die Muffigkeit des Hauses, die Bäume vor den Fenstern, alles war ihnen gemeinsam. Und das alles war nicht zu benennen. Sie waren nicht Geschwister, nicht Liebende. Es gibt auch noch anderes, und das wussten sie unbestimmt. Es gibt ein Verwandtsein, das stärker und enger ist als die Verbindung von Zwillingen im Mutterleib. Das Leben hatte ihre Tage und Nächte vermischt, sie wussten um den Körper des anderen, und auch um seine Träume.
    Die Amme sagte: »Willst du, dass es so ist wie früher?«
    »Ja«, sagte der General. »Genau so. Wie beim letzten Mal.«
    »Gut«, sagte sie kurz.
    Sie ging zu ihm, beugte sich hinunter und küsste seine beringte Greisenhand mit den Leberflecken und den dicken Adern.
    »Versprich mir, dass du dich nicht aufregen wirst«, sagte sie.
    »Ich verspreche es«, sagte der General leise und gehorsam.

3

    Bis fünf kam aus seinem Zimmer kein Lebenszeichen. Dann klingelte er nach dem Diener und verlangte ein kaltes Bad. Das Mittagessen hatte er zurückgeschickt und nur eine Tasse kalten Tee getrunken. Er lag im halbdunklen Zimmer auf dem Diwan, jenseits der kühlen Wände sirrte und gärte der Sommer. Er lauschte auf das heiße Brodeln des Lichts, auf das Rauschen des warmen Winds im ermatteten Laub, auf die Geräusche des Schlosses.
    Jetzt, nach der ersten Überraschung, fühlte er sich mit einmal müde. Man bereitet sich ein Leben lang auf etwas vor. Ist zunächst betroffen. Sinnt dann auf Rache. Wartet. Er wartete schon lange. Er wusste gar nicht mehr, wann sich die Betroffenheit in ein Bedürfnis nach Rache und in ein Warten verwandelt hatte. Die Zeit bewahrt alles auf, doch es wird farblos, wie die ganz alten, noch auf Metallplatten fixierten Photographien. Das Licht, die Zeit verwischen auf den Platten die scharfen und typischen Schattierungen der Gesichter. Man muß das Bild hin und her drehen, denn es braucht eine bestimmte Lichtbrechung, damit man auf der blinden Platte denjenigen erkennt, dessen Merkmale das Metall einst in sich aufgenommen hatte. So verblasst mit der Zeit jede menschliche Erinnerung. Eines Tages aber kommt von irgendwoher Licht, und man erkennt wieder ein Gesicht. In einer Schublade hatte der General solche alten Photographien. Das Bild seines Vaters. In der Uniform eines Gardehauptmanns, das Haar in dichten Locken, wie ein Mädchen. Um seine Schultern der weiße Umhang des Gardisten, den er sich mit einer beringten Hand auf der Brust zusammenhält. Den Kopf stolz und beleidigt seitwärts geneigt. Er hatte nie gesagt, wo und warum er beleidigt worden war. Wenn er von Wien nach Hause kam, ging er auf die Jagd. Tag für Tag Jagd, zu jeder Jahreszeit; gab es kein Rotwild oder war Schonzeit, jagte er Füchse und Krähen. Als ob er jemanden umbringen wollte und sich ständig auf diesen Racheakt vorbereitete. Die Mutter des Generals, die Gräfin, verbot den Jägern das Schloss, ja, sie verbot und entfernte alles, was an die Jagd erinnerte, die Gewehre, die Patronentaschen, die alten Pfeile, die ausgestopften Vögel und Hirschköpfe, die Geweihe. Damals ließ der Gardeoffizier das Jagdhaus bauen. Dort war dann alles beisammen: Vor dem Kamin lagen große Bärenfelle, an den Wänden hingen braungerahmte, mit weißem Filz bezogene Tafeln mit den Gewehren. Belgische und österreichische Flinten. Englische Messer, russische Büchsen. Für jede Art von Wild. Und in der Nähe des Jagdhauses waren die Hunde untergebracht, das vielköpfige Rudel, die Spürhunde und die Vizslás, und auch der Falkner wohnte
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