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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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die Heimat, als sähe er sie zum ersten Mal. Er betrachtete die niedrigen Häuser mit grünen Fensterläden und weißer Veranda, in denen sie übernachteten, die Häuser der Menschen seines Volks, von dichten Gärten umgeben, die kühlen Zimmer, in denen ihm jedes Möbelstück, ja, sogar der Geruch in den Schränken vertraut war. Und die Landschaft, deren Einsamkeit und Melancholie sein Herz anrührten wie nie zuvor: Mit den Augen der Frau sah er die Ziehbrunnen, die trockenen Felder, die Birkenwälder, die rosa Wolken am Abendhimmel über der Ebene. Die Heimat öffnete sich vor ihnen, und der Gardeoffizier spürte mit Herzklopfen, dass die Landschaft, die sie empfing, auch ihr Schicksal war. Die Frau saß in der Kutsche und schwieg. Manchmal hob sie das Taschentuch ans Gesicht. Bei solchen Gelegenheiten beugte sich ihr Mann vom Sattel herunter und blickte fragend in die tränennassen Augen. Doch die Frau bedeutete ihm, dass sie weiterfahren wollte. Sie waren einander verbunden.
    In der ersten Zeit war ihr das Schloss ein Trost. Es war so groß, der Wald und die Berge schlossen es so eindeutig gegen die Ebene ab, dass sie es als Heim in der fremden Heimat empfand. Und es trafen Transportwagen ein, jeden Monat einer, aus Paris, aus Wien. Wagen mit Möbeln, Leinen, Damast, Stichen und einem Spinett, denn die Frau wollte ja mit Musik die wilden Tiere zähmen. Der erste Schnee lag schon auf den Bergen, als sie eingerichtet waren und das Leben hier aufnahmen. Der Schnee riegelte das Schloss ab wie ein düsteres nordisches Heer die belagerte Burg. Nachts traten Rehe und Hirsche aus dem Wald, blieben im Schnee im Mondlicht stehen und beobachteten die beleuchteten Fenster mit schiefgelegtem Kopf und mit ernsten Tieraugen, die wundersam blau schimmerten, während sie der Musik lauschten, die aus dem Schloss sickerte. »Siehst du? ...«, sagte die Frau am Klavier und lachte. Im Februar jagte der Frost die Wölfe von den Bergen herunter, die Bediensteten und die Jäger machten im Park Reisigfeuer, in deren Bann die Wölfe heulend kreisten. Der Gardeoffizier ging mit dem Messer auf sie los; die Frau schaute vom Fenster aus zu. Es gab etwas, das sie miteinander nicht ausmachen konnten. Aber sie liebten sich.
    Der General trat vor das Bild seiner Mutter. Es war das Werk eines Wiener Malers, der auch die Kaiserin porträtiert hatte, mit herabhängendem, geflochtenem Haar. Das Porträt hatte der Gardeoffizier im Arbeitszimmer des Kaisers in der Burg gesehen. Die Gräfin trug auf dem Bild einen rosaroten Strohhut mit Blumen wie die Florentiner Mädchen im Sommer. Das goldgerahmte Bild hing über der Kirschbaumkommode mit den vielen Schubladen. Die Kommode hatte noch seiner Mutter gehört. Der General stützte sich mit beiden Händen darauf, um zu dem Bild des Wiener Malers hinaufzublicken. Die junge Frau hielt den Kopf schräg und schaute ernsten und zärtlichen Blickes ins Leere, als fragte sie: »Warum?« Das war die Bedeutung des Bildes. Die Gesichtszüge waren edel, Hals, Hände und die Unterarme, die in gehäkelten Handschuhen steckten, waren genauso sinnlich wie die weißen Schultern und der Busen im Dekolleté. Sie war eine Fremde. Wortlos rangen sie miteinander, ihre Waffen waren die Musik, die Jagd, die Reisen und die Abendgesellschaften, wenn das Schloss so erleuchtet war, als reite der Rote Hahn durch die Räume, während die Ställe mit Pferden und Wagen vollgestopft waren und auf jeder vierten Stufe der großen Treppe steife Heiducken wie Wachspuppen aus dem Panoptikum standen und zwölfarmige silberne Kandelaber hielten und die Musik, das Licht, die Stimmen und der Duft der Körper durch die Räume wirbelten, als sei das Leben ein verzweifeltes Fest, eine tragische, erhabene Feier, die damit endet, dass die Hornbläser ihre Instrumente erklingen lassen, um den Teilnehmern der Soiree einen unheilvollen Befehl zu verkünden. Der General konnte sich noch an solche Gesellschaften erinnern. Manchmal mussten die Pferde und die Kutscher im verschneiten Park um Reisigfeuer lagern, weil in den Ställen kein Platz mehr war. Und einmal kam auch der Kaiser, der hierzulande König hieß. Er kam im Wagen, in Begleitung von Reitern mit weißem Federbusch. Er blieb zwei Tage, ging im Wald auf die Jagd, wohnte im anderen Flügel des Schlosses, schlief in einem Eisenbett und tanzte mit der Dame des Hauses. Beim Tanzen redeten sie miteinander, und die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. Der König hörte auf zu tanzen, verneigte
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