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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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konnte er auch nicht leben, und auch das war ein Erbe. Vielleicht hatte die französische Mutter die Sehnsucht mitgebracht, wenigstens einem Menschen Gefühle zu zeigen. In der Familie des Vaters wurde von so etwas nicht gesprochen. Der Junge brauchte jemanden, den er lieben konnte: Nini oder Konrád. Dann hatte er kein Fieber, hustete nicht, und das blasse, magere Kindergesicht füllte sich mit rosaroter Begeisterung und mit Vertrauen. Sie waren in einem Alter, da die Jungen noch kein ausgeprägtes Geschlecht haben: als hätten sie das noch nicht entschieden. Sein weiches blondes Haar, das er hasste, weil er es als mädchenhaft empfand, wurde ihm vom Barbier alle zwei Wochen weggeschoren. Konrád war männlicher, ruhiger. Jetzt verlor die Kindheit ihre Enge, sie hatten keine Angst mehr davor, denn sie waren nicht mehr allein.
    Am Ende des ersten Sommers, als die Jungen in den Wagen stiegen, um nach Wien zurückzufahren, schaute ihnen die französische Mutter vom Schlosstor nach. Dann sagte sie lächelnd zu Nini: »Endlich eine gute Ehe.«
    Nini aber lächelte nicht. Die Jungen kamen jeden Sommer gemeinsam hierher, später verbrachten sie auch Weihnachten im Schloss. Sie hatten alles gemeinsam, Kleider, Unterwäsche, man richtete ihnen ein eigenes Zimmer ein, sie lasen gemeinsam dasselbe Buch, sie entdeckten gemeinsam Wien und den Wald, die Bücher und die Jagd, das Reiten und die Soldatentugenden, das Gesellschaftsleben und die Liebe. Nini hatte Angst, und vielleicht war sie auch ein bisschen eifersüchtig. Schon vier Jahre dauerte die Freundschaft, die Jungen begannen sich einzukapseln, hatten Geheimnisse. Die Beziehung wurde immer tiefer und auch immer krampfhafter. Der Junge gab mit Konrád an, er hätte ihn am liebsten allen als seine Schöpfung, sein Meisterwerk gezeigt, während er ihn andererseits eifersüchtig hütete in seiner Angst, man könnte ihm den, den er liebte, wegnehmen.
    »Das ist zu viel«, sagte Nini zur Mutter. »Eines Tages wird Konrád ihn verlassen. Dann wird er sehr leiden.«
    »Das ist des Menschen Los«, sagte seine Mutter. Sie saß vor dem Spiegel und starrte auf ihre verwelkende Schönheit. »Eines Tages verliert man den, den man liebt. Wer das nicht aushält, um den ist es nicht schade, der ist kein ganzer Mensch.«
    In der Anstalt machten sie sich über diese Freundschaft nicht lange lustig; sie gewöhnten sich daran wie an ein Naturphänomen. Man nannte sie nur noch bei einem einzigen Namen, wie ein Ehepaar: »Die Henriks«, aber man lachte nicht über diese Beziehung. Es war etwas darin, eine Zärtlichkeit, ein Ernst, eine Bedingungslosigkeit, etwas Endgültiges, das mit seiner Ausstrahlung die Spötter zum Schweigen brachte. In jeder menschlichen Gemeinschaft hat man ein Gespür für solche Beziehungen und ist eifersüchtig. Nach nichts sehnen sich die Menschen so sehr wie nach uneigennütziger Freundschaft. Meist sehnt man sich vergeblich. Die Jungen in der Anstalt flüchteten sich in den Stolz auf ihre Herkunft oder in die Studien, in frühreife Ausschweifungen, in körperliche Großtaten, in verfrühte, verwirrte und schmerzliche Liebschaften. In diesem menschlichen Durcheinander leuchtete die Freundschaft zwischen Konrád und Henrik wie das Licht, in dem sich der sanfte Ritus eines mittelalterlichen Treueschwurs vollzieht. Zwischen jungen Leuten ist nichts so selten wie die uneigennützige Anziehung, die vom anderen weder Hilfe noch Opfer fordert. Die Jungen wollen immer ein Opfer von denen, die ihre Hoffnungsträger sind. Die beiden Freunde spürten, dass sie in einem namenlosen, wunderbaren Gnadenzustand lebten.
    Nichts ist so zart wie eine solche Beziehung. Alles, was das Leben später gibt, feine oder rohe Sehnsüchte, starke Gefühle, die endgültigen Bindungen der Leidenschaft, alles ist gröber, unmenschlicher. Konrád war ernst und taktvoll wie jeder wirkliche Mann, und sei er zehnjährig. Als die Jungen größer und wacher wurden und mit trauriger Großspurigkeit die Geheimnisse der Erwachsenen zu lüften suchten, da nahm Konrád seinem Freund den Schwur ab, dass sie keusch bleiben würden. Dieses Gelübde hielten sie lange Zeit ein. Leicht war es nicht. Alle zwei Wochen gingen sie zur Beichte und erstellten die Sündenliste gemeinsam. Die Begierden machten sich im Blut und in den Nerven bemerkbar, die Jungen waren blass, hatten beim Wechsel der Jahreszeiten Schwindelgefühle. Aber sie blieben keusch, als sei ihnen die Freundschaft, deren Zaubermantel über ihrem
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