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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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den anderen Zöglingen im dunkelblauen Waffenrock sonntags auf dem Graben spazierengeführt. Sie waren wie Kinder, die Soldaten spielen. Sie trugen weiße Handschuhe und salutierten graziös.
    Die Kadettenanstalt befand sich in der Nähe von Wien, auf einem Hügel. Es war ein gelbes Gebäude, aus den Fenstern des zweiten Stocks konnte man die alte Stadt mit ihren schnurgeraden Straßen sehen und auch den Sommersitz des Kaisers, die Hausdächer von Schönbrunn und die zwischen gestutzten Bäumen angelegten Spazierwege. In den weißen Gängen mit den gewölbten Decken, in den Unterrichtsräumen, im Speisesaal und in den Schlafsälen hatte alles auf so beruhigende Weise seinen Platz, als wäre das der einzige Ort auf der Welt, wo alles, was im Leben verworren und überflüssig ist, endlich in Ordnung gebracht und versorgt worden wäre. Die Erzieher waren alte Offiziere. Alles roch nach Salpeter. „In den Schlafsälen schliefen jeweils dreißig Kinder, dreißig gleichaltrige Kinder, in schmalen Eisenbetten wie der Kaiser. Über der Tür hing ein Kruzifix mit einem geweihten Weidenzweig. Nachts brannte in den Lampen ein blaues Licht. Morgens wurden sie mit Hörnerklang geweckt; im Winter gefror manchmal in den blechernen Waschschüsseln das Wasser. Dann brachten die Adjutanten warmes Wasser in Kannen aus der Küche.
    Sie lernten Griechisch und Ballistik und das Verhalten vor dem Feind und Geschichte. Das Kind war blass und hustete. Im Herbst ging der Geistliche mit ihm jeden Nachmittag in Schönbrunn spazieren. Sie schlenderten durch die Alleen. In einem Springbrunnen aus moosigem, schimmlig verfallendem Gestein floss das Wasser golden, weil die Sonne darauf schien. Sie spazierten zwischen den Reihen der gestutzten Bäume, das Kind nahm Haltung an und salutierte mit weißbehandschuhter Hand steif und vorschriftsgemäß vor den Veteranen, die hier in Paradeuniform umherwanderten, als wäre jeder Tag der Geburtstag des Kaisers. Eine Frau kam über den Weg, unbedeckten Kopfes, den weißen Spitzensonnenschirm auf der Schulter; sie ging rasch an ihnen vorbei, während sich der Geistliche tief verneigte.
    »Die Kaiserin«, flüsterte er dem Kind zu.
    Die Frau war sehr bleich, ihr dichtes schwarzes Haar trug sie in einem dreifachen Zopf um den Kopf gewunden. Auf drei Schritte Entfernung folgte ihr eine schwarzgekleidete Frau, ein wenig gekrümmt, als wäre sie vom raschen Gehen ermüdet.
    »Die Kaiserin«, sagte der Geistliche noch einmal mit tiefer Ehrfurcht.
    Das Kind blickte der hohen Frau nach, die in der Allee des großen Gartens fast rannte, als sei sie auf der Flucht.
    »Sie gleicht der Mama«, sagte das Kind, denn das Bild, das im Arbeitszimmer seines Vaters über dem Tisch hing, war ihm in den Sinn gekommen.
    »So etwas darf man nicht sagen«, erwiderte der Geistliche ernst.
    Sie lernten von morgens bis abends, was man sagen darf und was nicht. In der Anstalt, wo vierhundert Kinder erzogen wurden, war eine Stille wie im Innern einer Höllenmaschine kurz vor der Explosion. Alle waren sie hierhergekommen, die Rotblonden, Stumpfnäsigen mit den müden weißen Händen aus den tschechischen Schlössern, die aus den mährischen Gutshöfen, die aus den Tiroler Burgen und den steirischen Jagdschlössern, die aus den Wiener Stadtpalais mit den geschlossenen Fensterläden, die von den ungarischen Landsitzen. Alle hatten lange Namen mit vielen Konsonanten und Vornamen, Titeln und Rangbezeichnungen, die hier in der Anstalt an der Garderobe abgegeben werden mussten, zusammen mit der feinen, in Wien und London genähten bürgerlichen Kleidung und der holländischen Unterwäsche. Von alledem blieben nur ein Name und ein Kind, das zu dem Namen gehörte und jetzt lernte, was man sagen darf und was nicht. Da waren slawische Jungen mit enger Stirn, in ihrem Blut sämtliche menschlichen Eigenschaften des Reichs, da waren blauäugige, sehr müde zehnjährige Aristokraten, die ins Leere blickten, als hätten ihre Ahnen an ihrer Stelle schon alles gesehen, und da war ein Tiroler Herzog, der sich mit zwölf Jahren erschoss, weil er in eine Kusine verliebt war.
    Konrád schlief im Nebenbett. Sie waren zehn Jahre alt, als sie sich kennenlernten.
    Er war untersetzt und doch mager, wie das bei sehr alten Rassen der Fall ist, bei denen der Knochenbau über das Fleisch gesiegt hat. Er war langsam, aber nicht faul, er hatte seinen eigenen, bewusst eingehaltenen Rhythmus. Sein Vater war Beamter in Galizien, zum Baron geadelt, seine Mutter war Polin.
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