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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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Wenn er lachte, erschien um seinen Mund ein breiter, kindlicher, slawischer Zug. Er lachte selten. Er schwieg und gab acht.
    Vom ersten Augenblick an lebten sie zusammen wie eineiige Zwillinge im Mutterleib. Dafür brauchten sie nicht, wie das sonst unter Gleichaltrigen Sitte ist, »Freundschaft zu schließen«, mit lächerlichen, feierlichen Ritualen, mit wichtigtuerischer Leidenschaftlichkeit, wie Menschen es tun, wenn sich in ihnen zum ersten Mal in unbewusster und entstellter Form das Bedürfnis regt, einen anderen Menschen mit Körper und Seele der Welt wegzunehmen, ihn sich ganz zu eigen zu machen. Denn das ist es, was Liebe und Freundschaft wollen. Ihre Freundschaft war so ernst und so wortlos wie alle großen Gefühle, die für ein Leben gelten. Und wie alle großen Gefühle enthielt auch dieses Scham und Schuldbewusstsein. Man nimmt einen Menschen den anderen nicht ungestraft weg.
    Sie wussten vom ersten Augenblick an, dass sie diese Begegnung für das ganze Leben verpflichtete. Der ungarische Junge war in dieser Zeit lang, dünn und zerbrechlich und wurde wöchentlich vom Arzt untersucht. Man war um seine Lungen besorgt. Auf Bitten des Anstaltsleiters, eines mährischen Obersten, kam der Gardeoffizier nach Wien und hatte mit den Ärzten ein langes Gespräch. Von all dem, was sie sagten, verstand er nur ein Wort: »Gefahr«. Der Junge ist nicht wirklich krank, sagten sie, er hat nur eine Neigung zur Krankheit. Gefahr - so allgemein sagten sie es. Der Gardeoffizier war in einer dunklen Seitenstraße im Schatten des Stephansdoms abgestiegen, im Hotel »König von Ungarn«, wo schon sein Großvater logiert hatte. Im Gang hingen Hirschgeweihe an der Wand. Der Lohndiener begrüßte den Gardeoffizier mit einem »Küss die Hand«. Er bewohnte hier zwei Zimmer, zwei mit gelben, seidenbezogenen Möbeln vollgestopfte dunkle Zimmer mit gewölbter Decke. Das Kind holte er für diese Tage zu sich, sie wohnten zusammen im Hotel, wo über jeder Tür die Namen von lieben Stammgästen zu lesen waren, als wäre das Haus ein weltliches Kloster für die einsamen Herren der Monarchie.
    Vormittags nahmen sie den Wagen und fuhren in den Prater hinaus. Es war schon kühl, Anfang November. Abends gingen sie ins Theater, auf der Bühne stürzten sich gestikulierende Helden röchelnd in ihr Schwert. Danach aßen sie im Restaurant, im Séparée, bedient von zahllosen Kellnern. Das Kind saß wortlos und mit altkluger Höflichkeit neben seinem Vater, als ob es etwas ertragen und verzeihen müsste.
    »Sie sprechen von Gefahr«, sagte sein Vater nach dem Essen eher zu sich selbst, und er zündete sich eine dicke schwarze Zigarre an. »Wenn du willst, kannst du nach Hause kommen. Aber mir wäre es lieber, wenn du dich vor keiner Gefahr fürchtetest.«
    »Ich fürchte mich nicht, Vater«, sagte das Kind. »Aber Konrád soll immer bei uns bleiben. Sie sind arm. Ich möchte, dass er im Sommer zu uns kommt.«
    »Ist er dein Freund?«, fragte sein Vater.
    »Ja.«
    »Dann ist er auch mein Freund«, sagte der Vater ernst.
    Er trug Frack und Rüschenhemd, die Uniform legte er in letzter Zeit nicht mehr an. Der Junge schwieg erleichtert. Dem Wort des Vaters konnte man vertrauen. Wohin sie in Wien auch gingen, überall, in allen Geschäften kannte man ihn, beim Herrenschneider, beim Handschuhmacher, beim Hemdenschneider, in den Gasthäusern, wo feierliche Oberkellner über die Tische regierten, und auch auf der Straße, wo ihnen Frauen und Männer aus ihren Wagen freudig zuwinkten.
    »Gehst du zum Kaiser?«, fragte das Kind an einem Tag kurz vor der Abreise des Vaters.
    »König«, wies ihn der Vater streng zurecht.
    Dann sagte er: »Ich gehe nicht mehr zu ihm.«
    Der Junge begriff, dass zwischen den beiden etwas vorgefallen war. Am Tag der Abreise stellte er seinem Vater Konrád vor. Am Vorabend war er mit Herzklopfen eingeschlafen: Das Ganze war wie eine Verlobung. »Man darf den König vor ihm nicht erwähnen«, warnte er seinen Freund. Doch der Vater war wohlwollend, herzlich, ganz der große Herr. Er nahm Konrád mit einem einzigen Händedruck in die Familie auf.
    Von dem Tag an hustete der Junge weniger. Er war nicht mehr allein. Er ertrug die Einsamkeit unter den Menschen nicht.
    Die Anlage, die er von zu Hause, vom Wald, von Paris und vom Temperament der Mutter her im Blut hatte, gebot ihm, von Schmerzen niemals zu sprechen, sondern sie schweigend zu ertragen. Am besten ist es, gar nicht zu reden, so hatte er es gelernt. Aber ohne Liebe
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