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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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Wettrennen mit Scarmiglia gemacht. Er heißt Dario, Dario Scarmiglia, aber er nennt sich nur Scarmiglia. Sehr dunkles Haar,
ein kluger Kopf. Er spricht wenig, macht einem nie Mut. Wir sind in einer Klasse; er lernt, ist gut, aber ohne sich dem Lehrplan zu unterwerfen, mit einem Denken, das scharf in die Gegenwart eindringt. Auch er ist, wie ich, düster und ideologisch.
    Wir starteten vom Gittertor der Schule und mussten bis zum Ende des Platzes rennen. Eine Art, unsere Verbindung zu artikulieren, sie zu skandieren. Kampfgeist, Hierarchien, die Art, wie auch durch uns die Welt ihre Regeln konsolidiert. Hundert Meter weiter, am Ende des Platzes, unser Schiedsrichter, Massimo Bocca, der für mich nur Bocca ist, das Bo mit weit geöffnetem Mund ausgesprochen. Trotz seines Umfangs klein, fett, eine Fleischkugel. Auch Bocca ist in einer Klasse mit mir. Bocca, Scarmiglia und ich. Klar denkend, abgesondert, feindselig. Elfjährige Zeitungsleser, Fernsehnachrichtenschauer. Beobachter des politischen Geschehens. Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster. Präadoleszente Außenseiter.
    Aus der Ferne musste Bocca das Startzeichen geben, indem er mit den Armen wedelte. Leicht nach vorn gebeugt, ein Bein angewinkelt und das andere bereit loszurennen, warteten Scarmiglia und ich auf das Signal. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er konzentriert war, die Lippen halb geschlossen hatte. Als Bocca die Luft dreimal zerfetzt hatte, warfen wir uns nach vorn, ganz eng aneinander, einer den Atem des anderen spürend, die Körper ähnlich, wie Zwillinge im Aufbau von Knochen und Muskeln. Fast sofort lockerte sich meine Kehle, ich musste lachen, und Scarmiglia hängte mich zwei Meter ab. Also strengte ich mich an und holte ihn wieder ein. Aber ich konnte nicht aufhören ihn anzusehen, meinen Lauf dem seinen anzupassen. Plötzlich fiel mir ein, wie er mir vor Kurzem, auf dem Nachhauseweg von der Schule, erzählt hatte, dass Haie in Afrika Haustiere sind, wie bei uns Hunde, und dass jedes Haus an der afrikanischen Küste einen aus langen Holzpfählen bestehenden Käfig im Meer hat, in dem ein kleiner Hai gehalten wird, damit er nicht in den Ozean davonschwimmt. Er erzählte mir das in einem vollkommen ernsthaften Ton, wie immer, und ich hatte
keine Zweifel gehegt. Meinerseits hatte ich es tags drauf anderen weitergesagt und versucht, die Geschichte im gleichen Ton zu erzählen. Sie hatten sich über mich lustig gemacht. Als ich jetzt, mitten im Lauf, an die Haie und die Blamage dachte, brach ich in Lachen aus und wurde langsamer, während Scarmiglia Bocca erreichte, an ihm vorbeilief und sich umschaute, um mich außer Atem anzusehen. Als ich, mit tränenden Augen und das Gesicht noch vor Lachen verzogen, ebenfalls das Ziel erreichte, baute Scarmiglia sich vor mir auf, fixierte mich, sagte: »Arschloch!« und ging weg, ohne sich umzudrehen.
    Die Piazza De Saliba ist jetzt leer. Ich kehre um. Gehe wieder durch die Via Cilea und bleibe vor dem Zoogeschäft stehen. Ich sehe mich im Schaufenster an. Den Pullover aus kratziger Wolle. Den steifen Kragen am Hemd. Den Gürtel aus grobem Leinen mit der emaillierten Schnalle, auf die ein Auto gemalt ist. Die Hosen aus blauem Cord mit Flicken auf den Löchern. Die grünbraunen Turnschuhe.
    Ich spiele wieder mit dem Ball herum, einfach so, werfe ihn gegen die Scheibe, bombardiere mir das Gesicht, die Tiere in den Boxen schrecken auf und starren mich vorwurfsvoll an - die Cockerspaniel stumm, die Zwergpudel übelnehmerisch, die Kanarienvögel flattern im Käfig hin und her, um mich zu verurteilen, bis die Eigentümerin aus der Tür tritt und mir sagt, ich soll damit aufhören; unter einem Himmel, an dem sich schwarze Wolken türmen und der aus jeder Straße einen dunklen Gang macht, reibe ich zerknirscht den Ball und gehe heimwärts und dann weiter, zurück in die Via Nunzio Morello. Als ich in den Schreibwarenladen komme, blättert Nunzio Morello eine Zeitschrift durch, die auf der Theke liegt, die Hand, breit wie das Blatt eines Ruders, fährt methodisch zwischen die Seiten, während der Mund sich verzieht und Töne der Konzentration von sich gibt. Ohne etwas zu sagen, lege ich den Ball neben die aufgeschlagene Zeitschrift; die Kugel rollt einen Moment über die Risse im Holz, ein dummes Hin und Her; dann, ganz ruhig, stabilisiert sie sich. Ich zeige auf das Regal mit den Rubbelbildern: der übliche Utopismus im
Tausch gegen die lauwarmen guten Intentionen. Meine systematische Feigheit.
    Nunzio
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