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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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reicht mir seinen Plastikbecher mit Wasser - ich nehme ihn, halte ihn in der Hand, schaue ihn an, stelle ihn neben mich. Dann sagt er mir, dass Bocca Fieber hat und nicht kommt. Er sagt auch, dass nachher etwas Neues anfängt. Er sagt es genau so, nüchtern und formell, ohne etwas hinzuzufügen, er will mich neugierig machen, doch ich betrachte das Aufleuchten von Sternen überall im Zimmer, um die Köpfe, Hände, Nasen und Wangen herum, die sich ohne Bewusstsein, ohne Verlockung berühren.
    Dann gebe ich nach.
    »Was ist es denn?«, frage ich.
    »Ein Zeichentrickfilm«, antwortet er und starrt weiter auf den Bildschirm. »Aus Japan.«
    »Und?«
    »In der Zeitung steht, er ist wichtig.«
    »Zum Lachen?«
    »Du willst wissen, ob er ironisch ist?«
    Scarmiglia und ich haben dieselben Obsessionen.
    »Ist er ironisch?«, frage ich.
    Er rümpft die Nase, beäugt fünf Cowboys mit seitlich runtergerutschtem Gurt, Pistole mit Silberknauf, karmesinrote Weste und paillettenbesetzter Hut.
    Etwas weiter weg, ins Gespräch vertieft, drei Musketiere mit grünen und roten Capes, silbernes Kreuz in der Mitte, falsche Stiefel,
aus Stoff, mit einem Gummiband unter den Schuhen befestigt, Schwerter aus Plastik mit wenigstens einem Knick darin.
    Scarmiglia mustert sie bitter. Er und ich sind die Einzigen ohne Kostüm.
    »Nein, er ist nicht ironisch«, sagt er und wendet den Blick vier Räubern zu, die atompilzartige schwarze Filzhüte tragen und mit Sammelbildchen handeln.
    »Zum Weinen«, fügt er hinzu.
    Ich drehe mich zu ihm hin, fragend.
    »Es ist die Geschichte eines Mädchens«, sagt er. »Eine Waise. In der Zeitung habe ich ein Foto gesehen: sie, ein Berg und eine Wiese.«
    Ein introvertierter Zorro hat sich etwas weiter weg auf den Boden gesetzt. In Wirklichkeit ist sein Hemd dunkelblau, doch er tut so, als wäre nichts, vertraut auf das Halbdunkel und die dünne Linie des spanischen Schnurrbärtchens, mit einem vom Feuer geschwärzten Korken gezogen. Allein, ausdruckslos, ohne Verbindung mit dem Raum um sich herum, nagt er an einem verbrannten Pizzastück, trinkt dann einen Rest Orangenlimonade aus dem Glas.
    »Warum zum Weinen?«, frage ich.
    »Funktioniert das nicht so?«
    »Was meinst du?«
    »Mädchen«, sagt er.
    Er macht mich nervös: Ich weiß, dass er es absichtlich tut, aber er macht mich trotzdem nervös.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Dass Mädchen einen zum Weinen bringen.«
    Während er das sagt, mustert er drei Edelfräulein aus dem vorigen Jahrhundert in Tüll und mit Schirmchen, die sich unterhalten, die ektoplasmischen Wangen daheim von den Tanten mit Spirituslackfarben geschminkt.
    Ich sage mir, dass er recht hat, aber er hat nicht recht. Scarmiglia weiß. Was er nicht weiß, leitet er ab; den Rest erfasst er intuitiv. Und wendet ihn an.

    Neun tiefblaue Feen rücken im Block an, die Haare zu Kegeln aufgetürmt, von denen weiße Schleierfetzen hängen, die Glockenkleider mit Sternen bestickt: Sie sind alle gleich, eine riesige blaue Wolke, die den Rest des Festes verschluckt. Hinter mir, auf einem Stuhl an der Wand, liegen ihre Zauberstäbe; auf dem Stuhl daneben Mäntel und Jacken. Ich stehe auf, nehme einen Mantel, lege ihn über die Zauberstäbe, schaue mich um und setze mich drauf. Ich höre das Krachen der Sternchen, das Geräusch eines Ausschlüpfens. Ich empfinde Verachtung für das Wort Sternchen . Auf den Stuhlrand gestützt, bewege ich mich, übe Druck aus, und es ist, als ob die Bruchstücke aus meinem Hintern kämen. Dann stehe ich auf, fasse nichts an, setze mich wieder neben Scarmiglia.
    Jetzt ist sie gekommen, sagt er, ohne mich anzusehen. Sie ist mit ihren Freundinnen in die Küche gegangen.
    Ich habe die Ellbogen auf die Knie gestützt, lasse den Kopf hängen. Ich spüre, dass mein Atem in Aufruhr ist. Ich beiße mir sanft in die Handkante, stehe auf, bahne mir einen Weg durch die unruhigen Körper. Schwielige Augenringe in allen Gesichtern, wie die Augenschatten von Gorillas. Vierzig Gorillajunge in Karnevalskostümen. Ich schlage mich zur Küche durch - wer weiß, was mit meinem Leben geschieht, wenn ich so dumpf werde und die Welt zu einem Gespenst, zu einem Skelett degeneriert, aber als ich an der Schwelle stehe, sehe ich, zwischen dem offenen Schränkchen und der weißen Blase des Kühlschranks, umringt von immer mehr Feen, nur noch sie, und da sind Vergangenheit und Zukunft und eine heilige Melancholie und Hitze und Verwirrung, Verfall der Sprache, Harmonie und Barbarei, Klarheit und
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