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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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Sprache eine Epidemie wäre, vor der es keine Rettung gibt. Ich sprach weiter, fest in der Sonne und in der Wahrnehmung der anderen, beschrieb Naturwissenschaften
und Geografie, überschritt freudig Grenzen, ließ mich fortreißen, bis die Lehrerin mich entschärfte, indem sie mir mit einem Lächeln eine Hand in Höhe des Herzens auflegte und sagte: Du bist mythopoetisch.
    Ich setzte mich wieder hin, noch mit dem Wohlgefühl und dem Unbehagen über ihre mageren Finger auf meiner Brust. Während ein Mitschüler meinen Platz am Pult einnahm und sich zu verhaspeln begann, fragte ich leise Chiri und D’Avenia. Keiner kannte das Wort. Zu Hause schlug ich dann nach. Mythopoetisch. Erfinder von Worten. Und ich war zufrieden. Dankbar und bewegt. Anerkannt.
    Auch jetzt, während der Stein liest, bin ich mythopoetisch, weil ich Phänomene in Worte verwandele. Die exakten Begriffe kenne ich aus der Enzyklopädie Il Modulo und aus den Ricerche- Heften der Edizioni Salvadeo. Dünn, hellgelb, die Fotos in Farbe. Auf der Rückseite des Fotos der Text, der es beschreibt. Informationen, präzise Termini. Jede Nummer ist einem Thema gewidmet. Tiere. Geschichte. Himmel und atmosphärische Phänomene. Meer. Naturwissenschaft und Technik. Tropische Pflanzen. Mit der Schere schneidet man die Bilder aus und klebt sie am Rand ins Heft, sodass man das Foto anheben und den Text auf der Rückseite lesen kann; dann spielt man bis zum Abend mit dem Klebstoff an den Fingern.
    Während der Lappen mit dem Kopf auf die Buchseiten sinkt und die Stimme des Steins die Sätze weiterhin deformiert herausbringt, arbeite ich an der Vertiefung meines Nimbus und konzentriere mich auf das Weidenkörbchen, in dem nicht mehr benutztes Spielzeug liegt - die zylindrische Form, die herausstehenden Faserfragmente -, auf die unterschiedlichen Weißtöne des lackierten Bücherregals, auf die Dagobert-Duck-Puppe mit dem Überrock aus abgegriffenem Gummi, auf das zu einem schäbigen Rosa verblasste Bambi, auf das Bildchen mit dem lockigen Knaben, der eine kitschige Blume in den Händen hält und mich anlächelt.
    Den Nacken gegen die Wand gepresst, ist mein Kopf übervoll mit Wörtern, ganzen Sätzen, die Blitze ausstoßen, und ich muss in
Gedanken aufzählen, was ich sehe: den Kleiderständer mit Jacken, den grünen Filzhut eines besiegten Cowboys, den Grubenhelm mit dem kaputten Lämpchen, und dann die flammende Maserung der Tür, die Astknoten hier und da und die zehn Zentimeter lange Schramme, die ich vor ein paar Tagen mit dem Stacheldraht neben der Klinke eingeritzt habe.
    Auf dem Höhepunkt, im Triumph der Sprache, ströme ich über.
    »Nein«, sage ich und löse mit einem Mal den Nacken von der Wand, und es scheint mir kein Wort, sondern eine Pforte.
    Der Lappen rührt sich und schaut mich an: eine sanfte Enttäuschung, friedlich. Der Stein hört auf zu lesen.
    »Was ist los?«, fragt er.
    »Nichts«, sage ich. »Ich hab das nicht verstanden.«
    Er sieht mich prüfend an, dann liest er weiter: »Um zu beweisen, dass Gott die Macht hat, den Toten das Leben zurückzugeben, erzählte der Prophet: ›Der Herr brachte mich im Geist hinaus und versetzte mich mitten in eine Ebene. Sie war voll von Gebeinen. Er fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden? Sprich als Prophet über diese Gebeine und sag zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: Ich selbst bringe Geist in euch, dann werdet ihr lebendig.‹ In der Vision gehorchte der Prophet, und Knochen rückten an Knochen, darüber liefen Nerven, wuchs Fleisch, streckte sich Haut, und Geist drang in sie ein, und sie wurden Menschen.«
    Ich rücke näher und strecke den Kopf nach dem aufgeschlagenen Buch aus. Auf dem Bild ist eine Ebene, auf der weiße verrenkte Skelette verstreut sind. Im Hintergrund, in massives Blutrot getaucht, ein sehr kleiner Hesekiel. Ich lege auch um ihn herum die Toten von Rom, verteile sie über die Ebene, bedecke sie mit weißen Tüchern, doch Hesekiel prophezeit, und sie schlüpfen darunter hervor, erheben sich, klopfen sich den Staub ab und gehen davon.
    Der Stein legt das Buch beiseite und steht auf, um das Päckchen Zigaretten zu holen, das er auf dem Schreibtisch gelassen hat. Während der Lappen unter die Decken schlüpft, das Licht
löscht und einschläft, zündet der Stein sich eine MS an und bleibt da - die Hosen braun, der Pullover braun, ein Unterarm, der diagonal über der Brust liegt, der Ellbogen in der anderen Hand, die Zigarette zum Mund geführt und
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