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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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den Beinen, vor allem auf den Beinen, innen, und zieht nur leichte Sommerkleider an, damit die Haut atmen kann und der Schmerz gelindert wird. Sie holt alle Kleider aus dem Schrank und breitet sie nacheinander auf dem Bett aus, betrachtet sie, berührt sie mit den Fingern, beurteilt sie, sondert sie aus. Sie untersucht den Inhalt des Kühlschranks, jedes
Fach, sieht sich jedes Lebensmittel einzeln an, ruhig, doch streng, unbeugsam, und stellt sich vor, mit dieser Ordnung der Welt ein bisschen Sinn zurückzugeben. Aus dem Arzneischränkchen holt sie eine Packung nach der anderen hervor, liest die Beipackzettel, ruft ihren Bruder an, der Arzt ist, macht sich Notizen in einem Kalender von 1973. Dann lässt sie das Brennen trübselig über sich ergehen, halb ohnmächtig in ihrem Sessel, die Glieder weit vom Leib gestreckt, redet über Madenwürmer, über endokrine Störungen, über ihre eigenen Qualen. Die Schnur ist allergisch gegen sich selbst, gegen ihren Atem. Dagegen, auf der Welt zu sein. Mit mir zusammenzuleben, mit dem Stein und dem Lappen. Und indem sie sich dagegen wehrt, hat sie diese Krankheit auch auf mich übertragen.
    Ich biege nach links ab, komme in die Via Nunzio Morello. Fast an der Ecke, hinter der Kirche San Michele, ist das Schreibwarengeschäft. Der Inhaber leidet auch unter Krämpfen. Aber das ist nicht Tetanus und auch nicht Nesselsucht, ich glaube, es ist ein Hirnschaden. Seine Bewegungen sind krampfhaft gewunden, wenn er spricht, kommt ein Schrei heraus, dann sehe ich seine fleischige Zunge, das violette Zungenbändchen. Wenn ich in die Via Nunzio Morello gehe, bin ich mittlerweile davon überzeugt, dass er Nunzio Morello ist. Dass es sein Name ist.
    Ich trete ein, er steht hinter der Ladentheke. Normalerweise frage ich ihn nach Rubbelbildchen. Heute nicht. Ich schaue ihm in die Augen, zeige auf ein Glas, er windet sich wie ein Reptil, dann greift er danach, stellt es auf den Tresen. Schnaufend schraubt er den Deckel auf, steckt die Hand hinein, wühlt darin herum, holt einen Gummiball heraus. Er ist blau, marmoriert, sieht aus wie der Himmel. Ich lege die Münzen auf die Theke und gehe.
    Ich gehe schnell, unruhig, die Adern voller Keime. Hinter dem Kiosk vor der Kirche mache ich halt und nehme den Ball fest in die Faust. Er ist hart, kompakt. Macht meine Handfläche glücklich. Das perfekte Geschenk für später, wenn ich zwischen meiner Angst und meinem Begehren schwanke. Mich ihr zu nähern, mit
ihr zu sprechen. Die Regel zu brechen, die ich mir auferlegt habe: sie mir weiter aus der Ferne vorzustellen.
    Ich setze den Heimweg fort, gehe am Haus vorbei, biege nach links ab und komme in die Via Cilea. Zum Zoogeschäft. Ich trete ein und grüße. Um mich herum Rassekatzen, schwarze Zwergpudel ohne Augen, Cockerspanielwelpen, die sich auf die Ohren treten, ein paar Küken, die schrecklichen Kanarienvögel. Ich gehe zum Aquarium. Beobachte, wie sich die Fische in dem Unterwasserblau bewegen, betrachte meine Gesichtszüge, die sich hinter der Scheibe auflösen, im Blubbern der Bläschen, die langsam vom Belüftungsstein hochsteigen, durch meine Haare schwimmen mikroskopisch kleine, leuchtende Fische. Meine Haare sind dicht, fest, hellbraun, hier und da flackert es blond auf, einzelne Strähnen platt auf der Stirn, weil der Stein morgens vor der Schule versucht, mir einen Scheitel zu ziehen, während ich an der Hand schnüffele, die meinen Kopf hält, um mich zu kämmen, die dicke Haut, der gute Geruch von rotem Ziegelstein, bei dem mir übel wird.
    Plötzlich erhöht sich der Druck der Belüftungspumpe und schleudert mein Gesicht davon: Ich verwandle mich in eine flüssige Wolke. Ich sage Auf Wiedersehen, gehe hinaus und weiter durch die Februarstraßen, zwischen den winterlichen Überresten der verdorrten Bougainvillea, den rötlichen Blüten, die überall in den Regenpfützen am Rand des Bürgersteigs verfaulen. Weiter gehe ich so voran, vermesse die Zeit mit dem Raum, doch mir scheint, ich stehe still. Ich beschleunige, dann noch mehr, eile in Richtung Schule, und irgendwann laufe ich, den Ball fest in der Hand, das Herz im Brustkorb, die Ellbogen, die die Luft hinter mir durchstoßen, die Knie, die sich kräftig heben. Ich renne, zerbeiße, schlucke den Wind, und im Lauf bin ich makellos. Als ich stehen bleibe, um wieder zu Atem zu kommen, studiere ich den Raum. Auf der einen Seite der Piazza De Saliba ist meine Mittelschule, auf der anderen der riesige offene Platz. Gestern habe ich hier ein
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