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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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nach Molekülen in der Luft sucht, dieser Impuls, die Welt leer zu schnüffeln, den sie mir vererbt hat.
    »Entschuldige noch einmal«, sagt sie.
    »Ist nicht wichtig, wirklich.«
    In diesem Moment kommt der Stein in die Küche. Wir begegnen uns auf der Schwelle. Die Schnur und der Stein. Und drüben der Lappen, der noch schläft. Ich lasse sie hinter mir, lasse sie zurück, denn mit mir können sie von jetzt an nicht mehr zusammen sein.
Der Vormittag in der Klasse verläuft normal. Wie vor Ferienbeginn üblich sind alle ein bisschen aufgedreht. Doch man übertreibt nicht: Auf allen lasten ein toter Klassenkamerad und ein zweiter, dessen Spur sich verloren hat. Man bricht wegen irgendetwas in Lachen aus, und gleich fällt es einem ein, dann nimmt man das Lachen zurück, verwandelt es in Husten, in ein Räuspern. Nach der fünften Stunde, als wir hinausgehen - die Rispenhirse in der Jackentasche, die Hand um sie geschlossen -, kreuzt sich Wimbows Blick mit meinem. Sie lächelt mir zu und gibt mir erneut ein Zeichen mit dem Kopf, ein Ja, wie das, als sie die Einladung gelesen hat. Auch ich lächle ihr zu, aus der Ferne, sehe mich dann kontrollierend um, ob uns irgendjemand bemerkt hat.
    Am frühen Nachmittag bin ich mit den anderen im Keller. Wir gehen den Plan noch einmal durch. Strahl wird um halb neun Uhr abends in der Via Sciuti ankommen. Ich habe ihm einen Nachschlüssel gegeben, er gelangt ohne Hilfe ins Haus. Er versteckt sich in der spitzwinkligen Ecke unter der Treppe, hinter dem Eingang der Pförtnerloge. Auch bei eingeschaltetem Licht bleibt sie immer im Halbdunkel; wenn man dort unten kauert, ist man unsichtbar. Um Viertel vor neun wird auch Flug kommen. Er hat ebenfalls einen Ersatzschlüssel. Zusammen werden sie unter der Treppe darauf warten, dass es neun wird, die Uhrzeit, die für die Ankunft Wimbows vorgesehen ist. Ich werde oben sein, in der Nähe der Sprechanlage, bereit zu antworten, und dann, nachdem ich mich gemeldet habe, eilig zu ihnen hinunterrennen.
    Die letzten Abende haben wir beobachtet, wie viele Leute zwischen acht und halb zehn an der Pförtnerloge vorbeigehen. Sehr wenige. Nach Hause kommt man früher, kurz nach sieben. Theoretisch könnte auch irgendjemand zum Kartenspielen ausgehen, zu dieser Jahreszeit ist das möglich, doch im Haus wohnen vor allem ältere Leute. Auf jeden Fall werden Strahl und Flug in der Ecke unter der Treppe Stöcke haben, wie man sie für Reisigbesen braucht. Ich stelle mir die beiden vor, wie sie die Hausbewohner durch die Pförtnerloge verfolgen und dabei diese Waffen schwenken: Wenn man bedenkt, dass wir mit unseren Händen jemanden
getötet haben, auch jemanden getötet haben, vor allem jemanden getötet haben, hat das etwas Sonderbares.
    Als wir uns für später verabreden, sehe ich sie mir gut an. Nicht so sehr ihre Augen als die Haut, die sie umgibt und die subtiler alle Veränderungen registriert. Die Augenschatten, die Fältchen. Die langsame Verwandlung eines Blicks in eine Wunde.
    Dann, im Laufe des Nachmittags, handle ich zum ersten Mal.
    Während es schon dunkel wird, verbringe ich zwei Stunden mit Schreiben. Auf ein Dutzend Heftseiten, in einer möglichst klaren Schrift. Als ich fertig bin, stecke ich alles in einen Umschlag und verlasse das Haus. Draußen sieht man nichts, die Straßenlampen funktionieren nicht. Mir fällt eine auf, die anzugehen versucht, sie brummt, sendet ein paar orangefarbene Blitze aus, dann gibt sie es auf: Man orientiert sich mithilfe von Weihnachtsbäumen, deren Licht aus den Fenstern fällt und die Straße beleuchtet. Als ich auf der Piazza Edison ankomme, sehe ich mich prüfend um, warte, bis ein Mann in einem Hauseingang verschwunden ist, nähere mich dem arabischen Brunnen und lasse den Umschlag fallen; ich schaue ihm nach, bis das helle Rechteck unten auf dem Grund liegen bleibt, und gehe nach Hause zurück.
    Es ist niemand da, ich kann mich frei bewegen. Ich gehe in die Abstellkammer, ziehe kleine Schachteln heraus und beginne zu kramen, trage nicht mehr benutzten Weihnachtsschmuck zusammen, ein paar Lichterketten, bunte Girlanden, den ausgesonderten Kork der Krippe, Kugeln, Hirten, Papierhütchen, Karnevalsmasken, das leuchtende Jesuskind, das Ersatzjesuskind - falls der Titular abhanden kommen sollte: die Angst der Schnur, immer vorausschauend und einfallsreich -, und bringe alles in einem großen Rucksack unter. Ich nehme das Etui, in dem die Schnur die Schlüssel verwahrt, finde diejenigen, die ich brauche,
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