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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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ich zum ersten Mal die Venus, ockergelb und pulsierend, ein winziger Fleck am Himmel über Palermo. Sie im Fokus zu halten ist schwierig, nach kurzer Zeit tun die Augen weh; also schaue ich wieder hinunter, zum Licht des Ofens, und erhole mich. Dann erneut hoch, und so mache ich weiter, bis die Venus verschwindet und das Licht des Ofens ausgemacht wird: Die Morgendämmerung ist vorbei, es bleibt der Duft von Brot.
    Ich gehe ins Bad, alle schlafen noch. Ich ziehe mich aus, stelle die Dusche an, seife mich ein und spüle die Seife ab, greife mit den Händen um meinen mageren Körper. Ich drehe das kalte Wasser ganz auf und lenke mir den eisigen Strahl ins Gesicht und auf die Brust. Während ich mich anziehe, sehe ich aus meinem halbdunklen Schlafzimmer heraus die Schnur, noch schlaftrunken in der Tür, wie sie sich im Morgenrock Richtung Küche wendet; neben mir, weiter weg, der leichte Atem vom Lappen. Als auch ich die Küche betrete, ist die Schnur, mit dem Rücken zu mir, gerade dabei, den Käfig des Kanarienvogels sauber zu machen. Auf dem Tisch steht ihre Tasse und auch die meine. Die Milch, die eingetunkten Atene-Kekse. Sieben, wie immer und ewig, zerbröckelt in der weißen Milch. Ich setze mich hin.
    »Gib mir bitte mal das Panicum«, sagt sie.
    Ich weiß nicht, was sie will, und rühre mich nicht.

    »Das Panicum«, wiederholt sie. »Gib mir das Panicum, ich habe gerade keine Hand frei.«
    Ich kenne das Wort doch irgendwie, aber bei der Schnur hört es sich komisch an und viel zu lang, ich verstehe nicht, was sie will. Während sie es sagte, hat sie auf das Regal mit dem Futter für den Kanarienvogel gezeigt. Ich stehe auf, nehme den Salat und bringe ihn ihr.
    »Das Panicum«, sagt sie ungeduldig. »Die Rispen da oben, neben der Hirse.«
    Ich gehe zurück, lege den Salat wieder hin, bleibe vor der Futterauswahl stehen: Da sind zwei dicke, braune Rispen, ich nehme eine, bringe sie ihr, gebe sie ihr.
    »Danke«, sagt sie.
    Ich setze mich wieder hin, nehme den Löffel und esse.
    »Wusstest du nicht, dass es so heißt?«, fragt sie mich nach einer Weile und macht sich weiter am Käfig zu schaffen.
    »Ich wusste es nicht.«
    »Panicum ist Rispenhirse. Ein Getreide. Und er«, sie zeigt mit dem Kopf auf den Kanarienvogel, »mag es.«
    Ich esse weiter, spüre noch die Kälte der Dusche auf meinem Körper. Die Schnur stellt den Kanarienvogelkäfig zurück auf den Hängeschrank und setzt sich hin.
    »Es gibt offensichtlich doch noch Sachen, die du nicht weißt«, sagt sie und nimmt den Löffel.
    Es gibt auch Sachen, die du nicht weißt, denke ich in meinem tiefsten Inneren. Ich denke es nicht mit Genugtuung, ich denke es mit Schmerz.
    Sie fängt an zu essen, bewegt langsam die Hand, ihre Knöchel sind aufgerissen. Während sie den Löffel zum Mund führt, weiß ich, dass es verloren irgendwo in ihrem Inneren - auch in ihrem Inneren - Verwirrung und Verlangen gibt, ein alltägliches Sehnen, auf der Welt zu sein; und ich weiß, dass ich auch mit ihr ins Reine kommen sollte, doch ich kann nicht, heute nicht.
    »Heute«, sagt sie und lässt den Löffel in die Tasse gleiten. »Entschuldige«, schiebt sie gleich hinterher und sieht mich mit einem
anderen Ausdruck an, lässt ihn melancholischer werden. »Das habe ich ja ganz vergessen, entschuldige. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
    Ich hebe den Kopf in ihre Richtung, bin überrascht: Für mich ist heute mein Geburtstag nicht mein Geburtstag. Sondern der Kontext eines Plans.
    »Das ist nicht wichtig«, sage ich und spüre, dass ich ein bisschen Macht angesammelt habe. Ich trinke meine Milch und stehe auf.
    »Kann ich die nehmen?«, frage ich und zeige auf die Rispe, die auf dem Regal liegen geblieben ist.
    »Natürlich. Gehst du denn schon los, zur Schule?«
    »Nein, ich lerne noch ein bisschen. Muss die Hausaufgaben fertig machen.«
    »In Ordnung.«
    Sie macht eine Pause, schaut mich an, versucht Zärtlichkeit in ihren Blick zu legen.
    »Feiern wir später?«, fragt sie.
    »Morgen fangen die Ferien an«, sage ich, »heute Abend gehe ich mit meinen Freunden weg.«
    »Mit deinen Schulkameraden«, sagt sie.
    Ich stecke die Rispe in die Tasche und gebe keine Antwort.
    »Da wirst du sicher Spaß haben«, fügt sie hinzu.
    »Ja«, sage ich und gehe aus der Küche.
    »Hör mal«, ruft sie mich zurück.
    Ich drehe mich um: Ich weiß, sie wird für immer hierbleiben, die eine Hälfte des Körpers über dem Tisch, die andere darunter verschwunden, die hagere Nase, die weiter
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