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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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Schmerz, ihrem Schmerz, dem genetischen, verschwindet, dann beruhigt sie sich plötzlich, entspannt sich, die Stirn hebt sich wieder, wird vom Dezemberlicht erfasst. Wimbow gibt mir ein entschiedenes Ja als Zeichen, hebt die Hand und schiebt sie zweimal kräftig mit dem Handrücken auf mich zu.
    Ich rühre mich nicht, ich möchte, dass alles jetzt endet.
    Dann, als ein Erwachsener hinter mir ruft, löst sich ihr Blick aus dem Gewucher von Blättern und Ästen und platzenden Knospen, grün und rot, wild durcheinander.

Lander
    21. Dezember 1978
    Im Jahr der dreizehn Monde, als die fantasiebegabteste Psyche vor Visionen implodiert, setzt am 21. Dezember eine sowjetische Sonde sanft auf der Oberfläche der Venus auf. Es ist Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres, ein kurzer Einschub von Licht in der langen Nacht der nördlichen Halbkugel. Als die Sonde landet, wirbelt sie strahlenförmig kleine Mengen eisenhaltigen Staubs auf. Die Sonde heißt Venera 11 und hat wenig Zeit für ihre Mission, weil die Wolken, die rasch über die Venus ziehen, aus Schwefelsäure bestehen; wenn sie sich abregnen, wird sich alles zersetzen und verflüchtigen. Die Sonde hat also anderthalb Stunden zur Verfügung. Erdzeit, denn die Venuszeit ist anders. Die Rotation dort ist langsam und retrograd, ein Tag dauert zweihundertdreiundvierzig Erdentage. Nach diesen anderthalb Stunden wird die Sonde sich auflösen und in eine basaltige Hochebene eingehen, eine riesige Fläche vom Ausmaß eines Kontinents: in eine jener schlangenförmigen Äderungen, die man auch von der Erde aus mit bloßem Auge im Morgengrauen oder gleich nach Sonnenuntergang erkennen kann.
    Ungefähr dreihundert Kilometer von der Oberfläche entfernt haben sich die beiden Module, welche die Sonde bilden, der Orbiter und der Lander, getrennt, und der Lander ist, verlangsamt durch die Einwirkung von Luftbremsen und leicht gestört von Blitzstrahlen und -schlägen, in freiem Fall hinuntergesunken.
    Der Lander ist auf der Venus, um Daten zu sammeln: Man will herausfinden, aus welchen Substanzen der Boden besteht, und die wirkliche Natur der Wolken, die chemische Struktur der
Atmosphäre erforschen, die Auswirkung des Sonnenwinds auf den Planeten.
    Doch das ist nur der scheinbare Grund.
    Der eigentliche Grund, warum Venera 11 am 21. Dezember 1978, am Ende eines ausweglosen Jahres, die Oberfläche der Venus erreicht hat, ist ein anderer: die Erde aus der Ferne zu beobachten.
    Oder genauer gesagt: nicht die ganze Erde, sondern nur Italien zu erkunden, seine Geologie, die kleinen Phänomene, Elend und Ruhm.
    Und das genügt noch nicht, das Untersuchungsobjekt muss noch enger eingegrenzt werden.
    Eine einzige Stadt: Palermo.
    Die Prähistorie.
    Damit die Sondierung exakter wird, ist es notwendig, diesen Raum von einem Cursor durchlaufen zu lassen, einem mobilen Körper, der es durch seine Wahrnehmungen ermöglicht, Daten zu sammeln. Es ist ein ungeeigneter, unpassender Körper. Der eines Jungen, der heute zwölf Jahre alt wird und Nimbus heißt.
    Ungefähr drei Minuten, nachdem der Lander die Oberfläche berührt hat, als sich die vom Kontakt aufgewirbelten Eisenteilchen schon wieder gesetzt haben und erneut in ihren mineralischen Traum eingetaucht sind, öffnet sich der Ausstieg der Sonde: Eine mechanische Leiter wird ausgefahren, ein paar kleine Figuren steigen die Metallstufen hinunter und setzen sich nebeneinander auf eine Erhebung, die dunkler ist als die dominierende gelbliche Färbung ringsum, ein bronzefarbener Felsen, Fragment eines erstarrten Lavastroms.
    Von dort aus sind die Erde, Italien, Palermo und Nimbus perfekt zu sehen.
    Ohne ein Wort zu sagen, schauen sie: die Krüppelkatze, Hesekiel, die Stechmücke, die prähistorische Taube, Crematogastra, die Pfütze in Form eines Pferdekopfs, Morana, die Schnur, der Stein, der Lappen. Und wie sie die menschliche Sonde Nimbus brauchen,
um den Raum, die Zeit und ihren Kollaps zu erkennen, so braucht Nimbus ihre Wahrnehmung.
    Ich brauche sie.
    Um zum Ende zu kommen.
     
    Der 21. Dezember beginnt kurz vor dem Morgengrauen. Aus weiter Ferne fühle ich mich schon im ersten Dämmerlicht beobachtet.
    Ich steige aus dem Bett, nach den nächtlichen Ausflügen zum Sessel, und stelle mich ans Flurfenster. Unten in der kleinen Gasse, wo der Ofen der Bäckerei ist, dringt ein wenig elektrisches Licht durch den halb heruntergelassenen Rollladen. Man riecht den Duft von Brot. Die Luft ist frisch und sauber, und als ich den Blick hebe, sehe
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