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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser
Autoren: Giorgio Vasta
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und stecke sie in die Tasche. Dann gehe ich in die Küche, schreibe einen Zettel, schiebe ihn unter einen Aschenbecher, nehme aus dem Kühlschrank eine Flasche Milch, stecke auch sie in den Rucksack, packe ihn mir auf den Rücken und verlasse das Haus.

    Es ist sechs Uhr nachmittags, und die Straßenlaternen brennen noch immer nicht. Ich erreiche die Pasticceria an der Ecke, schaue in die Auslage, suche mir die kleinste und schönste Torte aus und lasse sie mir einpacken. Ich gehe die Via Principe di Paternò hinunter bis zur Via Libertà, warte dort auf den Bus. Dunkel auch hier, ein Teil-Blackout, nur der öffentlichen Beleuchtung. Ich warte eine Weile, dann kommt der Bus. Ich steige ein, da sind Leute, ich schwanke auf der Suche nach Gleichgewicht, greife dann nach einer Stange, umfasse sie fest, fühle die Moleküle der Körper, wie sie in meine Handfläche eindringen. Als der Bus in den Parco della Favorita einfährt, der die Stadt mit Mondello verbindet, wird das Dunkel endgültig, denn hier sind keine Häuser mehr, hier gibt es nur noch Wald, das Gewölbe der hohen Büsche und Bäume, das den Blick auf den Himmel versperrt. Es beginnt zu nieseln. Ich setze mich hinten in den Bus, den Rucksack unter dem Sitz, die Torte auf den Knien. Ohne nachzudenken, lehne ich meine Wange ans Fenster; dann merke ich es und bleibe trotzdem so. Mich ekelt nichts mehr.
    Als ich aussteige, ist es zwanzig vor sieben. Es hat aufgehört zu regnen. Längs der Straße versetze ich den nassen Blätterhaufen kleine Tritte, es macht eine Art Atemgeräusch; mit den Schuhen versinke ich in den Pfützen und wiederhole erneut, im Kopf und mit den Lippen: »Ich erkläre mich zum politischen Gefangenen. Ich erkläre mich zum politischen Gefangenen«, setze die Wörter voneinander ab, wie die Perlen eines Rosenkranzes, gehe im Takt der Silben. Ich erreiche die Einmündung des Viale Galatea. Bleibe stehen, warte. Eine Minute vergeht, ich drehe mich um: Da ist niemand, nichts zu erwarten. Die Straße liegt in einem silbrigen Glanz vor mir - die Platanen sind traurig, Regentropfen gleiten von den Rücken der Blätter; der Himmel droben ist schwarz.
    Ich möchte keinen Schritt mehr tun müssen. Hier bleiben, die Schuhe entspannt in die wer weiß wievielte Pfütze getaucht. Reglos, nur empfindend, es schaffen, von der Infektion der Wörter zu genesen. Denn ich habe verstanden: Während der Genosse Flug daran gearbeitet hat, politischer Gefangener zu werden, habe ich
daran gearbeitet, mich jetzt zum mythopoetischen Gefangenen erklären zu können. Nur dies. Die Lust, sich mit Sätzen zu umgeben. Die Anstrengung. Die Angst, aus den Sätzen herauszugehen. Ein Jahr lang habe ich Sprache ersonnen - Proklamieren, Hervorheben, Drohen -, und ich habe die Sprache durchquert, einen Schritt nach dem anderen, ein Wort nach dem anderen, bis ich hier angekommen bin, jetzt, um fast sieben Uhr am 21. Dezember 1978, um der Umstürzler des Umsturzes zu werden.
    Ich schaue noch einmal hinter mich; die Straße ist leer. Ich gehe weiter, langsam spüre ich das Gewicht der Torte, und die Tragriemen des Rucksacks tun mir weh. Ich komme an, hole die Schlüssel heraus und schließe das Gittertor auf. Der schmale Weg innen ist voller Blätter. Da liegt altes Papier herum, da sind Geräusche, die von hinten kommen, wo ich mit den anderen vor Monaten begonnen habe, das Alphastumm zu erfinden. Das Erwachen des unsichtbaren Lebens, das den Raum einnimmt, in dem wir nicht leben.
    Ich schnüffle, ein guter Geruch. Ich schließe das Gittertor wieder und wende mich im Dunkeln dem Hintereingang zu. Als ich den schmalen Weg entlanggehe, nehme ich meinen Singsang erneut auf, verändere ihn dabei. »Ich erkläre mich zum mythopoetischen Gefangenen«, murmle ich, »ich erkläre mich zum mythopoetischen Gefangenen.«
    Ich schließe das Haus auf, nehme die Bettlaken von den Möbeln und lasse den Raum atmen. Nachdem ich die Lichter drinnen eingeschaltet habe, schalte ich auch die im Garten ein: Für einen Moment bewegen sich die Blätter der Hecke im Halbdunkel, die kleinen Katzen huschen hindurch. Dann drehe ich die Hähne in der Küche auf und lasse das Wasser laufen, bis sich der Rost verliert und es klar wird. Das Gleiche tue ich im Bad: Ich will, dass das Haus heute Abend lebt, dass es einen wachen Körper hat, die Lungen voller Luft und das Blut transparent.
    Ich leere den Rucksack aus und beginne mit dem Dekorieren. Ich steige auf einen Stuhl und wickle die roten und silberfarbenen
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