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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Autoren: Lion Feucht Wanger
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ausgeschlossen. Wer es auf andere Art machen will, ist aus der Mottenkiste.«
    Gustav war verwundert, fast traurig, daß junge Menschen sich nur mehr an so kalten Dingen wärmen konnten. Die Musik spielte soeben ein Potpourri aus »Die Stumme von Portici«. Vor hundert Jahren hatte in Brüssel diese Oper die Hörer hingerissen, daß sie auf die Straße zogen und Revolution machten. Diese Jungens würden sich von so was nicht hinreißen lassen. »Und Sokrates? Seneca? Christus? War ihr Tod nutzlos?« fragte er.
    »Das weiß ich nicht«, sagte ablehnend Herr Tüverlin. »Aber das weiß ich, daß es, seitdem es Experimentalwissenschaft gibt, klüger ist, für eine Idee zu leben, statt für sie zu sterben. Man nützt nämlich der Idee mehr damit. Ein paar kindische Verleumder haben dem großen Galilei angehängt, er habe gesagt: ›Sie bewegt sich doch.‹ Nichts hat er gesagt. Sowie er die Folterwerkzeuge gesehen hat, hat er schleunigst abgeschworen. Er war eben ein großer Mann. Da er genau gewußt hat, daß sie sich doch bewegt, warum sollte er nicht sagen, sie bewege sich nicht? Ob er es sagt oder nicht, sie bewegt sich doch. Hat er sich gedacht. Und so sollten es Ihre Demonstranten machen, Herr. ›Heil Hitler‹ sollten sie rufen, und denken sollten sie sich was anderes. Ihre Demonstranten, Herr«, schloß er, jedes Wort mit kräftigem Schlenkern seiner rötlich überflaumten Rechten unterstreichend, »sind unnützlich, romantisch, unzeitgemäß. In unserer Zeit jedenfalls sind Märtyrerallüren Unsinn.«
    Heinrich genierte sich jetzt wohl ein wenig seiner Heftigkeit von vorhin. Er saß steif in seinem bequemen Caféhaussesselin der Haltung eines Menschen, der einen zeremoniösen Besuch abstattet. »Wir sprechen oft davon«, sagte er, »die Eltern und ich, was wohl die Juden in Deutschland machen sollen. Sie sind in einer scheußlichen Situation. Die meisten können nicht heraus, sie haben kein Geld, man läßt sie auch nirgends herein. Sie bemühen sich, unter den schwierigsten Umständen ihr Geschäft in Deutschland zu halten. Überall spuckt man sie an, sie sind vogelfrei, an den Bädern ist angeschrieben, sie dürfen nicht herein, ihre Pässe überstempelt man: ›Jude‹, kein Christenmädchen darf mit ihnen über die Straße gehen, aus den Vereinigungen werden sie hinausgeschmissen, Fußball dürfen sie nur unter sich spielen. Beschwert sich einer bei der Polizei, dann kriegt er die Antwort, das sei der gerechte Zorn des Volkes. Sollen sie demonstrieren? Verlangst du von ihnen, Onkel Gustav, daß sie sich hinstellen und schreien: ›Nun gerade, ihr seid die Minderwertigen, und wir sind die Besseren‹?«
    »Ich verlange gar nichts, mein Junge«, sagte Gustav. »Wahrscheinlich haben diese Juden in Deutschland recht.« Die Musik war lärmend, Tassen klirrten, Menschen ringsum schwatzten laut; dennoch sprach Gustav ohne viel Ton und so höflich, daß die jungen Menschen, die beide sogleich hatten weiterreden wollen, für einen Augenblick still wurden.
    Dann sagte zunächst Tüverlin, gemäßigter: »Es haben Leute, die seit Jahrzehnten mit Jüdinnen verheiratet waren und Kinder von ihnen haben, erklärt, sie hätten jetzt ihren Irrtum eingesehen, sie schämten sich dieses Irrtums, sie hätten übrigens seit Jahren nicht mehr mit ihren jüdischen Frauen geschlafen, und sie haben die Scheidung eingeleitet. Das sind Scheißkerle. Trotzdem man nicht wissen kann, ob sie diese Erklärung nicht im Einverständnis mit ihren Frauen abgegeben haben, um diesen Frauen und ihren Kindern das Leben zu ermöglichen. Dann wären sie keine Scheißkerle, sondern kluge Männer.« – »Well«, sagte Heinrich, »es muß verdammt schwer sein, stillzuhalten, wenn ein anderer, der zehnmal mickeriger ist als man selber, einem auf den Kopfspuckt. Ich glaube, es gehört manchmal Selbstbeherrschung dazu, klug zu sein und das Maul zu halten. Mein Konpennäler Kurt Baumann hat mir geschrieben, sie haben jetzt lauter Themen, ›Was ist heldisch?‹ und so. Ich habe es im Deutschen immer nur zu einer Drei gebracht, aber den Aufsatz möchte ich ihnen schreiben. Sie würden Augen machen im Pennal. Sie würden mir eine Vier geben, aber ich verdiente eine Eins.«
    Gustav konnte gegen das, was sein junger Neffe vorbrachte, wenig sagen, aber er hatte seine Bilder, die ihm aufgestiegen waren aus den Dokumenten Bilfingers, er dachte an die Photos des Herrn Teibschitz, an den Johannes seiner Visionen, den Hampelmann auf der Kiste, grotesk federnd, Knie
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