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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer
Autoren: R Merle
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meinen vertraulichen Bericht zugänglich zu machen? Letzten Endes gehört
     dieser Bericht mir, da ich ihn abgefaßt habe.
    Ich nehme diesen erstaunlichen Vorschlag mit Kälte auf. Mein Bericht ist kein persönliches Werk, sondern die kollektive Arbeit
     einer Kommission, von der man Geheimhaltung gefordert hatte. Dieses Geheimnis zu verletzen, würde mich vor ein ernsthaftes
     ethisches Problem stellen.
    Darauf verlasse ich Cresby, ohne mich weiter zu äußern; ich bin hellhörig geworden, und mir stehen die Haare zu Berge. Mir
     schwant, daß sich der geniale junge Mann mit seinem Präsidenten überworfen hat und im Begriff ist zu manövrieren. Das Ziel
     ist klar: Er versucht, meine Gewissensskrupel auszunutzen, um seinen ehemaligen Chef zu Fall zu bringen. Und während er mich
     bei diesem Sturz mitreißen würde, bliebe er selbst außer Reichweite.
    Ich rufe Anita an und bitte sie, zu mir zu kommen. Zuerst sagt sie nein: zuviel Arbeit. Ich lasse ein Wort über mein Gespräch
     mit Cresby fallen, und sofort sagt sie hastig: Okay, Ralph, ich bin um zehn bei dir.
    Abends natürlich. Ich habe eine Menge Zeit. Ich bringe meinen zehnjährigen Sohn Dave ins Bett, besser gesagt, ich überwache
     sein Zubettgehen mit Diskretion. Er verdankt sein Leben nicht Anita – in deren Karriere Kinder nicht eingeplant sind –, sondern
     meiner ersten Frau, Eileen, die mit zweiunddreißig Jahren, als Dave vier war, an Septikämie starb.
    Ich dusche mich und ziehe mir ebenfalls einen Pyjama an: einen dieser Pyjamas, die Anita so amüsieren, weil ich sie nach Maß
     arbeiten lasse. Vergeblich habe ich ihr erklärt, daß ein Mann wie ich, der nicht allzugroß ist, unmöglich Hosen tragen kann,
     die im Schritt zu lang sind.
    |20| Um halb zehn gehe ich in Daves Zimmer, um ihn zu überzeugen, daß er das Licht ausmachen muß. Ein friedliches Bild. Der Airedaleterrier
     Buz – zur Zeit in Pension bei uns, denn er gehört einer Nachbarin – hat sich am Fußende des Bettes ausgestreckt, die Schnauze
     auf den Pfoten. Da er schon im Einschlafen begriffen ist, bereitet er mir einen minimalen Empfang: er öffnet nur ein Auge,
     und sein Schwanz schlägt gegen den Teppich. Dave rührt sich nicht. Er liest und stützt sich dabei auf ein zusammengedrücktes
     Kissen. Seine schwarzen Wimpern werfen einen dichten Schatten auf seine Wangen. Ich setze mich ans Fußende seines Bettes und
     betrachte ihn. Für sein Alter ist er eher klein, aber ganz gut gebaut; er hat ein ovales Gesicht, matte Haut und welliges,
     dunkelbraunes Haar. Die Statur, den Gesichtsschnitt, den Teint und die Wimpern hat er von mir. Die Augen sind Eileens Augen.
     Seit sechs Jahren vertiefe ich mich jeden Abend in diesen Anblick.
    Es war nicht leicht, mir mein Leben einzurichten. Ich habe eine ausgezeichnete Nachbarin, die Dave morgens zur Schule bringt
     und ihn abends abholt; eine andere Nachbarin, die kinderlos ist, paßt bis zu meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus auf ihn auf.
    Da ich gerade von meinen Nachbarn spreche – in der ersten Zeit nach meinem Einzug in unser Haus in Wesley Heights fragten
     sie sich, wenn sie einen Empfang gaben, »ob man die Martinellis einladen müßte«.
    Dieses Zögern hielt nicht lange an. Dank Eileen bin ich von ihnen bald akzeptiert worden. Dank auch – ich zitiere – »mei nem italienischen Charme«. Was darauf hinausläuft, daß sie schließlich mit einem Pluszeichen versahen, was sie, bevor sie mich
     kennenlernten, mit einem Minuszeichen versehen hatten. Auch das ist Rassismus, nur umgekehrt. Gut. Von dem Augenblick an,
     wo es freundschaftlich zugeht, will ich nicht den Überempfindlichen spielen. Vor meinen Nachbarn passiert es mir sogar, daß
     ich noch aufdrehe und italienischer als die Italiener bin. Sie sind hingerissen. Vor allem die Frauen.
    »Ich mache aus, Ralph«, sagt Dave und belohnt mich damit für den Takt, mit dem ich ihn gewähren ließ, ohne ein Wort zu sagen.
    Ich stehe auf und fahre mit der rechten Hand über Daves Kopf; dem Wunsch widerstehend, ihn zu umarmen (er mag es |21| nicht), gehe ich ins Wohnzimmer zurück, um auf meine bessere Hälfte zu warten, die ich so selten sehe.
    In den Augen meiner Freunde, vor allem derer, die Eileen gekannt haben, scheint meine Wiederverheiratung unter solchen Bedingungen
     nicht gerechtfertigt. Sie haben recht. Ich entschuldige mich damit, daß ich keine andere Wahl hatte. Ich habe Anita geheiratet,
     weil mich meine ehemalige Schwiegermutter, die das Erziehungsrecht auf
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