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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer
Autoren: R Merle
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die Öffentlichkeit? Alle würden über
     uns herfallen, und Sherman hätte die Wahl gewonnen.«
    Ich plädiere weiter, aber es ist völlig sinnlos. Aus Höflichkeit oder um das Thema zu wechseln, erkundigt sich Anita nach
     Dave. Es geht ihm nicht besonders. Etwas anämisch, Dave. Jetzt, da ich zurückgetreten und arbeitslos bin, werde ich mir vielleicht
     acht Tage nehmen, damit er eine Luftveränderung bekommt. Anita lächelt, und weil mich dieses Lächeln ärgert (ich weiß genau,
     was sie über meine Beziehungen zu Dave denkt), frage ich sie ziemlich aggressiv, ob sie es für eine Frau völlig normal findet,
     keine Kinder zu haben.
    »Normal?« sagt sie verächtlich. »Ich weiß nicht, was das heißen soll, normal. Und ich sehe keinen Grund, warum meine Eierstöcke
     über meinen Lebenslauf entscheiden sollten. Bei mir entscheidet der Kopf.«
    Daraufhin schläft sie ein, auf der Stelle, wie ein Wasserhahn, den man zudreht. Abgesehen von ihrer großen Begabung, ist Anita
     eine robuste Natur. Aber wahrscheinlich nicht von übertriebener Sensibilität geplagt. Als ich ihr die Ausbreitung der Enzephalitis
     16 schilderte und ihr vom Tode Dr. Morleys erzählte, der das Reanimationszentrum des Krankenhauses leitete, in dem ich gearbeitet
     habe, zeigte sie sich nicht sehr betroffen. Dabei kennt sie ihn, sie hat mehrmals mit mir bei ihm gegessen.
    Es ist klar, in diesen Dingen haben wir nicht die gleiche Wellenlänge, können sie nicht haben. Morleys Tod hat mich erschüttert,
     nicht zuletzt, warum soll ich es nicht zugeben, weil sein Schicksal das meine hätte sein können, wenn ich im Krankenhaus geblieben
     wäre, anstatt eine Kommission zu übernehmen.
    Ich sehe Anita an. Ihr schönes, mahagonifarbenes Haar ist strahlenkranzförmig aufgelöst, sie schläft, wie sie sich hingelegt
     hat, quer über meinem Bett. Da ich sie nicht wecken will, werde ich mich mit der Couch im Wohnzimmer begnügen. Sie schläft
     völlig friedlich, ihr Gesicht wirkt selbst im Schlaf beherrscht. Klar, sie wird an der Enzephalitis 16 nicht sterben. Dieser
     Gedanke quält sie weder im Wachen noch im Träumen. Anita hat in dieser Hinsicht keine Angst. Nicht um sich und, wie ich fürchte,
     auch nicht um mich.
    |24| Am nächsten Tag schicke ich mein Rücktrittsgesuch ab, und mittags ruft Anita mich an. Ein Anruf im Telegrammstil (die ständige
     Angst, abgehört zu werden). »Ralph, ich habe Vater informiert, den Bericht zu veröffentlichen kommt nicht in Frage, aber Matthews
     könnte im Fernsehen auftreten, um die Leute zu warnen und ihnen einige Empfehlungen zu geben.«
    Ich hänge auf. Das ist ein halbherziges Versprechen, das eine halbherzige Maßnahme ankündigt. Gut. Ich werde, wie vorgesehen,
     für acht Tage wegfahren, und falls sich bis zu meiner Rückkehr nichts getan hat, bin ich entschlossen, endlich zu handeln.
    Auf Jamaika, in einem abgelegenen Winkel der Blue Mountains, mittlere Höhenlage, miete ich ein kleines Bauernhaus ohne Komfort,
     ohne Radio, ohne Fernsehen, sogar ohne Stromanschluß, doch man hat von dort aus einen wundervollen Blick auf den südöstlichen
     Teil der Insel.
    Nach diesem Ausflug in das primitive Leben, von dem Dave und ich erholt zurückkehren, lande ich in Washington, und sobald
     ich mein Gepäck bekommen und den Zoll passiert habe, kaufe ich die
New York Times.
Bestürzt lese ich darin auf der zweiten Seite lange Auszüge aus meinem Bericht.
    Fiebernd kaufe ich alle Tageszeitungen. Ich überfliege sie. Welche erstaunliche Veränderung! Acht Tage zuvor sprach man nur
     von Thailand und den Präsidentschaftswahlen. Und heute gibt es nur ein Thema, ein einziges: die Enzephalitis 16. Überall lange
     Zitate aus meinem Geheimbericht und – implizit oder explizit – Anschuldigungen des Weißen Hauses, wegen des Verschweigens,
     wegen seiner Untätigkeit und seiner Unfähigkeit.
    Denn ohne Frage, das ist eine »Indiskretion«, und für die Presse, die nicht an mich herankam, besteht kein Zweifel, daß ich
     der Autor bin und mich aus dem Staub gemacht habe. Selbstverständlich formuliert das niemand so. Es genügt zu sagen, daß ich
     mein Amt niedergelegt habe und »verschwunden« bin.
    Zu Hause angelangt – es ist neun Uhr abends –, rufe ich Luigi Fabrello an, meinen Anwalt. Gellendes Geheul im Apparat: Wo
     warst du bloß? Ich habe gar keine Zeit, den Mund aufzumachen. Luigi heult von neuem: Kein Wort jetzt, ich komme.
    Eine Stunde später steht er vor meiner Tür, dunkle Augen, tragisches
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