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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers
Autoren: Wingfield Jenny
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war dunkel«, sagte Samuel. »Ich hab nicht das Geringste sehen können. Aber der Raum hatte einen Boden aus nackter Erde, daran kann ich mich erinnern.«
    »Toy kann sich an verdammt viel mehr erinnern als nur an einen Boden aus nackter Erde. Er erinnert sich an alles bis ins letzte Detail.«
    Als Samuel den Mund öffnete, um zu widersprechen, schüttelte Early nur den Kopf und erklärte ihm, jeder im Columbia County wisse doch, wer in der Familie Moses fürs Töten zuständig war.
    »Vor vielen Jahren«, sagte er, »ist Toy ungeschoren mit einem Mord davongekommen, weil er ein Kriegsheld war und Yam Ferguson ein verwöhnter reicher Dreckskerl, der zu Hause geblieben ist und den Frauen anderer Männer nachgestellt hat, statt einen Beitrag zum Krieg zu leisten. Doch auch wenn Yam Ferguson und auch Ras Ballenger den Tod verdient hatten, kann Ihr Schwager nicht einfach herumlaufen und alle paar Jahre jemandem das Genick brechen. Das wäre ein schlechtes Beispiel.«
    »Aber er hat es nicht getan«, sagte Samuel. »Fragen Sie doch meine Tochter, wer sie aus dem Loch geholt hat.«
    »Ihre Tochter«, sagte Early, »hat etwas durchgemacht, das einen Menschen um den Verstand bringen kann. Sie hat dem Arzt erzählt, sie sei von Mäusen befreit worden. Hunderten von Mäusen. Und wissen Sie was, Samuel? Wir haben die zerfetzten Seilstücke, den Jutesack und all das gefunden, von dem sie gesprochen hat. Aber keine Exkremente im ganzen Raum. Eine Maus kann nicht von hier nach da rennen, ohne überall kleine Köttel hinzuscheißen. Ihre Tochter hat sich selbst befreit. Ich weiß nicht, wie, aber sie hat es geschafft. Und jetzt gehen Sie nach Hause und freuen sich, dass Sie immer noch eine Tochter haben. Hören Sie auf, den Ruhm für etwas einstreichen zu wollen, das Sie nicht getan haben.«
    Ruhm. Damit gab Early Samuel zu verstehen, dass er den Mord an Ras Ballenger für eine gute Sache hielt, sich aber unwiderruflich entschieden hatte, wer der Mörder war. Oder wem er erlauben würde, die Schuld für den Mord auf sich zu nehmen. Samuel war sich sicher, dass Early Meeks sich nicht mehr umstimmen lassen würde.
    Also ging er zum Staatsanwalt, einem dicken alten Sturkopf namens Lavern Little, erzählte ihm seine Geschichte und verschwieg diesmal die Sache mit dem Fliegen. Lavern ließ ihn nicht einmal zu Ende reden.
    »Die Leute hier sind überhaupt nicht glücklich über die Geschichte«, erklärte er Samuel. »Nicht dass irgendwer Ras Ballenger vermisst, das tut niemand, aber die Leute wollen auch nicht, dass Toy Moses entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss. Sie müssen endlich damit aufhören zu versuchen, der Justiz Sand ins Getriebe zu werfen, sonst werde ich mich noch entschließen, wegen zweier Morde Anklage gegen Toy zu erheben statt nur wegen eines. Mord verjährt nämlich nicht.«
    Samuel hatte verstanden. Alles, was er jetzt noch sagte oder tat, würde die Sache für Toy verschlimmern.
    Trotzdem versuchte die gesamte Familie während der nächsten zwei Wochen, Toy zur Vernunft zu bringen. Doch jedem entgegnete er, er hätte in seinem ganzen Leben noch nie etwas Vernünftigeres getan.
    »Wenn man mich vor Gericht stellt«, wandte Samuel ein, »komm ich vielleicht mit Totschlag durch. Aber dich hat man wegen Mord angeklagt.« An diesem Tag konnten sie offener miteinander reden als sonst. Early war längst zu dem Schluss gekommen, dass Toy keinen Wachposten nötig hatte. Er war wild entschlossen, im Gefängnis zu bleiben, und würde auf keinen Fall fliehen.
    »Richtig«, sagte Toy. »Aber wenn ich draußen frei herumlaufen würde, müsste man mich vielleicht noch wegen eines weiteren Mordes anklagen.« Er brauchte nicht zu erwähnen, dass er von der Sache mit Yam und Bernice sprach. Als Samuel nicht sofort antwortete, lieferte ihm Toy weiteren Stoff zum Nachdenken.
    »Weißt du, warum ich Yam Ferguson getötet habe, Samuel?«
    Samuel war schockiert. Bisher war ihm der Mord an Ferguson immer wie eine Art Mythos erschienen. Eine von diesen Geschichten, die wahr sein konnten, obwohl niemand so genau wusste, dass sie es tatsächlich waren.
    »Ich hab es getan«, sagte Toy verbittert, »weil ich Bernice’ Ehre retten wollte.«
    Dann lachte er. Es klang hohl und furchtbar traurig. »Ich habe einen Mann getötet, um etwas zu verteidigen, was gar nicht existierte. Vielleicht also muss ich heute für damals zahlen, und nun erhältst du das, was ich vor langer Zeit bekommen habe: eine Begnadigung.« Er sah Samuel fest an,
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