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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers
Autoren: Wingfield Jenny
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ungebändigtes, sandfarbenes Haar ließ sie im Wind fliegen, bis es schließlich vollkommen zerzaust war. Und irgendwann fing sie auch immer laut zu lachen an, weil sie ein solch intensives Gefühl von Freiheit verspürte, wenn sie nach Hause fuhr.
    Willadee liebte dieses Ritual, diese Fahrt einmal im Jahr, bei der sie gemeinsam mit ihrer wunderbaren, gesunden Familie im Auto saß, alle ganz aufgeregt vor Erwartung. Sie nutzte die Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie es ihnen bisher ergangen war und was die Zukunft wohl bringen würde – und darüber, wie gut die Kinder in ihre Namen hineinwuchsen, die sie ihnen bei ihrer Geburt als eine Art Segenswunsch gegeben hatte. Ihren ersten Sohn hatte sie Noble genannt. Eine klare Bitte an das Universum, ihm Mut und Redlichkeit zu verleihen. Der jüngere Sohn hieß Bienville. Eine gute Stadt. Oder, wie Willadee es sah, ein friedvoller Ort, den sie ihm wünschte. Das Mädchen hatte sie Swan getauft, aber nicht wegen der Schönheit von Schwänen, sondern wegen deren Stärke. Und ein Mädchen, so hatte Willadee gedacht, brauchte reichlich Kraft, damit es sich nicht ständig auf andere stützen musste. Bisher schienen all ihre Segenswünsche in Erfüllung zu gehen. Noble war unglaublich aufrichtig, Bienville absolut liebenswürdig, und Swan war so energiegeladen, dass sie des Öfteren alle anderen erschöpfte.
    Columbia County lag im Süden von Arkansas, wo es genauso aussah wie im Norden von Louisiana. Als Gott diesen Teil des Landes geschaffen hat, hat er ihn als ein großes Stück geschaffen, und es scheint, als hätte es ihm großen Spaß gemacht. Hier gab es sanfte Hügel, hohe Bäume, klare Bäche mit sandigem Grund, Wildblumen und blauen Himmel mit großen, bauschigen Wolken, die so tief hingen, dass man glauben konnte, sie berühren und sich ein Stück von ihnen abreißen zu können. Das war die positive Seite. Die Kehrseite waren Dornengestrüpp, Kletten und diverse andere Dinge, die niemand besonders zur Kenntnis nahm, weil die Vorteile die Nachteile bei Weitem überwogen.
    Wegen der Jahresversammlung konnte Samuel nie zum Familienfest bleiben. Die Zeit reichte immer nur, um Willadee und die Kinder abzusetzen und ein bisschen mit Willadees Eltern zu reden. Oder zumindest mit ihrer Mutter Calla. John fing jedes Mal an zu würgen und verließ das Haus, sobald sein Schwiegersohn es betrat. Immerhin Calla hielt Samuel für den Größten. Schon etwa eine Stunde später küsste Samuel Willadee zum Abschied und tätschelte ihr den Hintern – vor Gott und aller Welt. Dann nahm er die Kinder in die Arme, ermahnte sie, brav zu sein und ihrer Mama zu gehorchen, und fuhr zurück nach Louisiana. Auch von John verabschiedete er sich stets, bevor er wieder aufbrach, doch der alte Mann antwortete ihm nie. Er konnte Samuel einfach nicht verzeihen, dass er mit Willadee so weit fortgezogen war, und er konnte Willadee nicht verzeihen, dass sie mitgegangen war. Ganz besonders, wo sie doch Calvin Furlough hätte heiraten können, der jetzt eine gut gehende Lackier- und Karosseriewerkstatt betrieb, nur ein Stück die Straße hinunter wohnte und die besten Waschbärhunde weit und breit besaß. Hätte Willadee sich dem Wunsch ihres Vaters gemäß in Calvin verliebt, so wäre alles anders geworden. Sie hätte in seiner Nähe wohnen können und wäre John im Alter ein Trost gewesen – und John wäre nicht mit einer Enkelin namens Schwanensee geschlagen gewesen: Swan Lake.
    Die Familie Moses hatte sich über das gesamte Columbia County verteilt. Überall. John und Calla hatten sich leidenschaftlich geliebt und fünf Kinder zustande gebracht. Vier Söhne und eine Tochter. Bis auf Willadee und den jüngsten Sohn Walter, der mit zwanzig bei einem Unfall im Sägewerk ums Leben gekommen war, lebten alle noch immer in der Nähe von Magnolia, maximal vierzig Meilen von ihrem alten Elternhaus entfernt.
    Das »alte Elternhaus« war einst eine ausgedehnte Farm von vierzig Hektar gewesen, die Milch, Eier, Fleisch, Gemüse, Obst, Nüsse und Honig abgeworfen hatte. Doch die Arbeit war recht mühsam gewesen, denn das Land gab freiwillig nicht viel her. Auf dem Farmgelände standen zahllose Nebengebäude, die John und seine Söhne im Laufe der Jahre errichtet hatten: Scheunen, Ställe, Räucherkammern und Plumpsklos, von denen die meisten sich nun, im Jahr 1956, erschöpft zur Seite neigten. Wenn man ein Gebäude nicht mehr benutzt, weiß es intuitiv, dass es ausgedient hat, und verhält sich auch
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