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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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während ich zu meiner schönen Gebieterin von Liebe sprach. Da ich seine sittsamen Einwände fürchtete, entledigte ich mich seiner, indem ich ihn bat, eine Angelegenheit für mich zu regeln. Und so hatte ich nach der Ankunft in der Herberge das Vergnügen, mich mit der Königin meines Herzens allein zu unterhalten. Mir ging recht bald auf, dass ich weniger kindlich war, als ich glaubte. Mein Herz öffnete sich tausenderlei Empfindungen der Wonne, von denen ich bislang keine Vorstellung gehabt hatte. Eine süße Wärme durchströmte all meine Adern. Ich befand mich in einem Zustand der Verzückung, der mir zeitweilig die Stimme verschlug und nur in meinen Augen Ausdruck fand.
    Mademoiselle Manon Lescaut – so war ihr Name, wie sie mir sagte – schien von der Wirkung ihres Zaubers höchst angetan. Ich glaubte zu bemerken, dass sie nicht weniger bewegt war als ich selbst. Sie gestand mir, dass sie mich liebenswert finde und dass es ihr eine große Freude wäre, wenn sie ihre Freiheit mir zu verdanken hätte. Sie wollte erfahren, wer ich sei, und dieses Wissen förderte ihre Zuneigung, denn da sie von einfacher Herkunft war, schmeichelte es ihr, einen Liebhaber wie mich erobert zu haben.
    Wir beratschlagten über die Möglichkeiten, wie wir zueinanderfinden könnten. Nach vielerlei Überlegungen sahen wir keinen anderen Ausweg als den der Flucht. Es galt, die Wachsamkeit des Reisebegleiters zu überlisten, auf den wir Rücksicht nehmen mussten, auch wenn er nur ein Bedienter war. Wir kamen überein, dass ich während der Nacht eine Chaise 6 bereitstellen und in aller Frühe zur Herberge zurückkehren sollte, ehe er erwacht sei; wir wollten uns dann heimlich davonmachen und direkt nach Paris begeben, wo wir uns gleich bei Ankunft trauen lassen würden.
    Ich besaß etwa fünfzig Ecu, die ich mir mühsam zusammengespart hatte; sie besaß etwa das Doppelte. Wie unerfahrene Kinder bildeten wir uns ein, dass dieses Geld niemals zu Ende gehen würde, und wir bauten nicht minder auf das Gelingen unserer anderen Pläne.
    Nach einem Abendessen in größerer Glückseligkeit, als ich sie je zuvor empfunden hatte, zog ich mich zurück, um unser Vorhaben auszuführen. Meine Vorbereitungen waren umso leichter getroffen, als meine Sachen schon gepackt waren, da ich die Absicht gehabt hatte, am folgenden Tag zu meinem Vater zurückzukehren. So konnte ich umso leichter meinen Koffer herbeiholen und für fünf Uhr morgens einen Wagen bereitstellen lassen, denn um diese Zeit wurden die Stadttore geöffnet; doch ich sah mich einem Hindernis gegenüber, mit dem ich nicht gerechnet hatte und an dem mein Vorhaben fast gescheitert wäre.
    Tiberge, obwohl doch nur drei Jahre älter als ich, war ein junger Mann von reifer Gesinnung und höchst geordnetem Lebenswandel. Er war mir äußerst zugetan. Der Anblick eines so schönen Mädchens wie Manon, meine Beflissenheit, sie zu begleiten, und dass ich darauf bedacht gewesen war, ihn loszuwerden, indem ich ihn fortschickte, ließen ihn meine Liebe erahnen. Er hatte es nicht gewagt, zur Herberge zurückzukehren, wo wir uns getrennt hatten, weil er fürchtete, durch seine Rückkehr meinen Unwillen zu erregen; doch hatte er sich zu meiner Unterkunft begeben, um auf mich zu warten, und dort traf ich ihn bei meiner Rückkehr an, obwohl es schon zehn Uhr abends war. Seine Anwesenheit verdross mich. Er bemerkte sogleich die Befangenheit, in die sie mich versetzte.
    «Ich bin sicher», so sagte er unverhohlen, «dass Sie etwas im Schilde führen, das Sie mir verheimlichen wollen; ich sehe es Ihnen an.»
    Ich antwortete ziemlich schroff, dass ich ihm keinerlei Rechenschaft über meine Vorhaben schulde.
    «Nein», antwortete er, «doch haben Sie mich immer als Freund behandelt, und diese Eigenschaft setzt doch ein wenig Vertrauen und Offenheit voraus.»
    Er bedrängte mich so stark und so lang, mein Geheimnis zu lüften, dass ich ihm, dem ich niemals etwas vorenthalten hatte, meine Leidenschaft ganz und gar offenbarte. Er schien darüber so ungehalten, dass ich erzitterte. Ich bereute vor allem, wie leichtfertig ich ihn in meinen Fluchtplan eingeweiht hatte. Er sagte, seine Freundschaft zu mir sei zu tief, als dass er sich mir nicht mit aller Kraft in den Weg stellen würde; er wolle mir zunächst all das vor Augen führen, was seiner Meinung nach geeignet sei, mich von meinem Plan abzubringen, doch werde er, wenn ich jenen elenden Entschluss danach nicht widerriefe, Personen davon in Kenntnis setzen, die
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