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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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ich. «Gehen Sie doch zum ‹Lion d’Or›, wo ich abgestiegen bin. Ich komme später nach.»
    Und richtig kehrte ich alsbald dorthin zurück, voller Ungeduld, die Einzelheiten seines bösen Schicksals und die Umstände seiner Reise nach Amerika zu erfahren. Ich überhäufte ihn mit vielerlei Zeichen meiner Wertschätzung und gab Anweisung, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Ich musste erst gar nicht in ihn dringen, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.
    «Monsieur», sagte er, «Sie zeigen sich mir gegenüber derart edelmütig, dass ich es mir als erbärmlichste Undankbarkeit anrechnen würde, wenn ich Ihnen etwas vorenthielte. Ich will Ihnen nicht allein von meinem Unglück und meinem Leid berichten, sondern auch von meinen Verfehlungen und höchst beschämenden Schwächen. Wenn Sie mich auch verurteilen, Sie werden nicht umhin können, mich gleichermaßen zu bedauern, da bin ich sicher.»
    Ich muss den Leser hier darauf hinweisen, dass ich seine Geschichte beinahe unmittelbar, nachdem ich sie gehört hatte, niedergeschrieben habe, und dass man folglich versichert sein darf, dass nichts genauer und getreuer sein kann als diese Darstellung. Sie ist getreu bis hin zur Wiedergabe der Gedanken und Empfindungen, denen der junge Abenteurer auf denkbar edelste Weise Ausdruck verlieh. Hier also sein Bericht, dem ich bis zuletzt nichts hinzufügen werde, das nicht von ihm stammte.
    Ich war siebzehn Jahre alt und beendete mein Studium der Philosophie in Amiens, wohin ich auf Veranlassung meiner Eltern gegangen war, die zu den besten Familien von P … zählen. Ich führte ein so sittsames und geregeltes Leben, dass mich meine Lehrer im Kolleg als Beispiel hinstellten. Nicht dass ich außerordentliche Anstrengungen unternommen hätte, um ein derartiges Lob zu verdienen, bin ich doch meiner Natur nach sanften und ruhigen Gemüts: Ich widmete mich meinen Studien aus Neigung, und gewisse Anzeichen eines natürlichen Abscheus dem Laster gegenüber rechnete man zu meinen Tugenden. Meine Herkunft, der Erfolg meiner Studien und ein recht angenehmes Äußeres führten dazu, dass alle ehrbaren Menschen der Stadt mich kannten und schätzten. Als ich von meiner Ausbildung öffentlich Probe ablegte, fand ich so große allgemeine Anerkennung, dass Seine Exzellenz der Bischof, der zugegen war, mir den Vorschlag machte, in den geistlichen Stand zu treten, wo ich es, wie er sagte, zweifellos zu größeren Auszeichnungen bringen würde als im Malteserorden 4 , für den meine Eltern mich ausersehen hatten. Sie ließen mich bereits das Kreuz tragen, und ich führte den Namen Chevalier des Grieux.
    Es war Ferienbeginn, und ich traf Anstalten, zu meinem Vater zurückzukehren, der mir versprochen hatte, mich alsbald auf die Reit- und Fechtschule zu schicken. Ich bedauerte bei meiner Abreise aus Amiens lediglich, dort einen Freund zurückzulassen, dem ich immer in innigem Verhältnis verbunden gewesen war. Er war um einige Jahre älter als ich. Wir waren gemeinsam erzogen worden, doch da seine Familie nur spärlich bemittelt war, war er gezwungen, in den geistlichen Stand zu treten und nach meiner Abreise in Amiens zu bleiben, um dort die Fächer zu belegen, die auf diesen Beruf vorbereiten. Er hatte tausenderlei gute Eigenschaften. An den besten werden Sie ihn im weiteren Verlauf meiner Geschichte erkennen, vor allem an seiner Hingabe und Hochherzigkeit als Freund, worin er selbst die berühmtesten Vorbilder aus der Antike übertrifft. Hätte ich damals seine Ratschläge befolgt, so wäre ich immer sittsam und glücklich geblieben. Und hätte ich in dem Abgrund, in den meine Leidenschaften mich gezogen haben, zumindest seine Vorhaltungen beherzigt, so hätte ich in meinem Untergang wohl etwas von meinem Vermögen und von meinem guten Ruf retten können. Doch hat seine Fürsorge ihm nichts anderes eingetragen als den Kummer, ihre Nutzlosigkeit zu erleben und sie zuweilen schlecht gelohnt zu sehen von einem Undankbaren, der darüber ungehalten war und sie als Aufdringlichkeit zurückwies.
    Ich hatte den Zeitpunkt für meine Abreise aus Amiens festgesetzt. Ach! Warum bin ich nicht einen Tag früher gefahren? Ich wäre in aller Unschuld zu meinem Vater zurückgekehrt.
    Als ich am Vorabend des Tages, an dem ich jene Stadt verlassen sollte, mit meinem Freund – er hieß Tiberge – einen Spaziergang machte, sahen wir, wie die Kutsche aus Arras eintraf, und wir folgten ihr bis zu der Herberge, wo diese Gefährte Station machten. Wir waren schlicht
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