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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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der Anblick einem nicht das Herz zerreißen kann.»
    Aus Neugier stieg ich ab und überließ das Pferd meinem Reitknecht. Ich drängte mich mühsam durch die Menge und betrat das Haus, und was ich sah, war in der Tat recht bewegend. Unter den zwölf Mädchen, die jeweils zu sechst um die Leibesmitte aneinandergekettet waren, befand sich eine, deren Haltung und Antlitz so wenig zu ihrer gegenwärtigen Situation passten, dass ich sie unter jedweden anderen Umständen für eine Dame der besten Gesellschaft gehalten hätte. Ihre Traurigkeit und der Schmutz ihrer Leibwäsche und ihres Kleides taten ihrer Schönheit so wenig Abbruch, dass mich ihr Anblick mit Hochachtung und Mitleid erfüllte. Sie versuchte gleichwohl, sich abzuwenden, soweit ihre Kette das zuließ, um ihr Gesicht vor den Augen der Zuschauer zu verbergen. Ihr Bemühen, sich zu verstecken, war so natürlich, dass es einem Schamgefühl zu entspringen schien.
    Da die sechs Wachsoldaten, die diese unglückselige Gruppe begleiteten, ebenfalls in der Gaststube waren, wandte ich mich an ihren Hauptmann und bat ihn, mir etwas über das Schicksal dieses schönen Mädchens zu berichten. Er konnte mir aber nur sehr allgemeine Auskünfte geben. «Wir haben sie auf Befehl des Generalleutnants der Polizei aus dem Hôpital 3 geholt», sagte er. «Es hat nicht den Anschein, dass sie dort ihrer guten Werke wegen eingesperrt war. Ich habe sie unterwegs mehrere Male befragt, aber sie weigert sich, mir zu antworten. Zwar habe ich keinen Befehl erhalten, sie besser als die anderen zu behandeln, doch gehe ich mit ihr etwas rücksichtsvoller um, denn mir scheint, dass sie etwas ehrwürdiger ist als ihre Gefährtinnen. Da drüben ist ein junger Mann», so fügte der Gardist hinzu, «der Ihnen besser als ich erklären kann, weshalb sie in Ungnade gefallen ist; er ist ihr seit Paris gefolgt und hat fast ohne Unterlass geweint. Er muss ihr Bruder oder ihr Geliebter sein.»
    Ich wandte mich zur Ecke der Gaststube hin, wo der junge Mann saß. Er schien tief in Gedanken versunken. Nie habe ich ein eindringlicheres Bild des Schmerzes gesehen. Er war sehr einfach gekleidet; doch ist ein Mann von guter Familie und Bildung ja auf den ersten Blick zu erkennen. Ich ging auf ihn zu. Er erhob sich, und seine Augen, sein Gesicht und all seine Bewegungen boten einen so feinen und so edlen Ausdruck, dass ich ihm instinktiv wohlgesonnen war.
    «Ich will Sie nicht stören», sagte ich, als ich mich neben ihn setzte. «Doch würden Sie wohl meine Neugier befriedigen und mir sagen, wer diese schöne Person ist, die mir nicht für die bedauerlichen Umstände geschaffen scheint, in denen ich sie hier sehe?»
    Er antwortete mir offenherzig, dass er mir nicht mitteilen könne, wer sie sei, ohne sich selbst vorzustellen, und dass er aus gutem Grund lieber unerkannt bleiben wolle. «Ich kann Ihnen allerdings sagen, was diesen Elenden hier nicht entgangen ist», fuhr er fort und zeigte auf die Gardisten, «nämlich dass ich sie mit einer so heftigen Leidenschaft liebe, dass sie mich zum unglücklichsten aller Männer macht. Ich habe in Paris alles unternommen, um ihre Freilassung zu erreichen. Inständige Bitten, Gewandtheit und Gewalt haben nichts genützt; so habe ich mich entschlossen, ihr zu folgen, und wenn es bis ans Ende der Welt ginge. Ich werde mich mit ihr einschiffen; ich werde nach Amerika fahren. Doch was die größte Unmenschlichkeit ist, diese niederträchtigen Halunken», setzte er hinzu, wobei er die Gardisten meinte, «wollen mir nicht erlauben, mich ihr zu nähern. Mein Plan war, sie ein paar Meilen von Paris entfernt offen anzugreifen. Ich hatte mich mit vier Männern zusammengetan, die mir für eine beträchtliche Summe Geld ihre Unterstützung zugesagt hatten. Die Verräter ließen mich im Stich und machten sich mit meinem Geld auf und davon. Da ich mit Gewalt mein Ziel nicht zu erreichen vermochte, streckte ich die Waffen. Ich habe die Gardisten mit dem Angebot einer Belohnung um die Erlaubnis ersucht, ihnen folgen zu dürfen. Aus Habgier willigten sie ein. Sie wollten jedes Mal bezahlt werden, wenn sie mir die Gunst gewährten, mit meiner Geliebten zu sprechen. Mein Beutel war in kurzer Zeit leer, und jetzt, da ich keinen Sou mehr habe, stoßen mich diese Unmenschen jedes Mal brutal zurück, wenn ich mich ihr nähere. Gerade eben, als ich trotz ihrer Drohungen gewagt habe, zu ihr hinzutreten, waren sie so anmaßend, die Gewehrmündung auf mich zu richten. Um ihre Habsucht zu
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