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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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denn wirklich, welches Maß anzulegen ist? Täuscht man sich nicht hinsichtlich des Anlasses? Hundert Schwierigkeiten stellen sich einem entgegen.
    Man fürchtet, zum Narren gehalten zu werden, wenn man wohltätig und großzügig sein will, als schwach zu gelten, indem man zu sanft und zu einfühlsam erscheint – kurz, es mit den Pflichten zu übertreiben, die in den allgemeinen Begriffen von Menschlichkeit und Sanftmut auf allzu unbestimmte Weise enthalten sind, oder ihnen nicht zu genügen. In dieser Ungewissheit können nur Erfahrungen oder Beispiele der Neigung des Herzens eine vernünftige Richtung geben.
    Nun sind Erfahrungen aber kein Vorteil, den sich zu verschaffen jedermann freistünde; sie hängen von den verschiedenen Situationen ab, in die man sich vom Schicksal gestellt sieht. Also bleiben nur Beispiele, um vielen Menschen bei der Ausübung der Tugend als Maß zu dienen. Und gerade für solche Leser können Werke wie das vorliegende von größtem Nutzen sein, sofern sie aus der Feder eines Mannes von Ehre und Besonnenheit stammen. Jedes Ereignis, von dem hier berichtet wird, bietet gewisse Erkenntnisse und damit eine Unterweisung als Ausgleich für mangelnde Erfahrung; jedes Abenteuer ist ein Muster, nach dem man sich formen kann; es muss lediglich den Umständen angepasst werden, in denen man sich befindet. Das Werk ist insgesamt ein Traktat über die Sittlichkeit, das auf gefällige Weise in Handlung umgesetzt ist.
    Ein gestrenger Leser nimmt vielleicht Anstoß daran, dass ich in meinem Alter noch einmal zur Feder greife, um schicksalhafte Liebesabenteuer niederzuschreiben; doch wenn der soeben dargelegte Gedankengang hieb- und stichfest ist, rechtfertigt er mich zur Genüge; wenn er falsch ist, möge mein Irrtum als Entschuldigung dienen.
    Anmerkung:
    Auf Drängen jener, denen dieses kleine Werk am Herzen liegt, wurde beschlossen, eine große Zahl grober Fehler auszumerzen, die sich in die meisten Ausgaben eingeschlichen haben. Es wurden auch einige Ergänzungen vorgenommen, die notwendig erschienen, um eine der Hauptpersonen in ihrer ganzen Lebensfülle zu zeigen.

ERSTER TEIL

Ich muss den Leser in die Zeit meines Lebens zurückversetzen, da ich dem Chevalier des Grieux zum ersten Mal begegnete. Es war etwa sechs Monate vor meinem Aufbruch nach Spanien. Obgleich ich nur selten meine Abgeschiedenheit aufgab, hatte ich meiner Tochter zuliebe gelegentlich verschiedene kleine Reisen auf mich genommen, die ich mir jedoch immer so kurz wie möglich einrichtete.
    Ich kehrte eines Tages aus Rouen zurück, wohin ich mich auf ihren Wunsch begeben hatte, um vor dem Parlament der Normandie eine Angelegenheit zu regeln, bei der es um die Ansprüche auf einige Ländereien ging, die ich als Erbe meines Großvaters mütterlicherseits an sie abgetreten hatte. Nachdem ich von Evreux aus, wo ich die erste Nacht verbracht hatte, meinen Weg fortgesetzt hatte, gelangte ich am folgenden Tag zum Mittagsmahl nach Pacy, das fünf oder sechs Meilen von dort entfernt liegt. Als ich in dem Marktflecken anlangte, fand ich zu meinem Erstaunen alle Einwohner in Aufruhr. Sie kamen aus ihren Häusern gestürzt und liefen zuhauf zu einer elenden Herberge, vor deren Tor zwei Planwagen standen. Da die Pferde noch angeschirrt waren und vor Erschöpfung und Hitze merklich dampften, war unschwer zu ersehen, dass die Gespanne gerade erst eingetroffen waren.
    Ich machte einen Moment lang halt, um die Ursache für das Getümmel in Erfahrung zu bringen, doch erhielt ich wenig Auskunft von dem neugierigen Volk, das meinen Fragen keinerlei Beachtung schenkte und weiter der Herberge zuströmte, wobei das Gedränge ein großes Durcheinander verursachte. Als schließlich ein Gardist mit Umhängekoppel und Muskete über der Schulter am Tor erschien, winkte ich ihn heran. Ich bat ihn, mich über den Grund für die Unruhe aufzuklären.
    «Nichts Besonderes, Monsieur», sagte er, «nur ein Dutzend Freudenmädchen, die ich mit meinen Kameraden nach Havre-de-Gr â ce 2 bringe, wo wir sie nach Amerika einschiffen. Es sind ein paar hübsche darunter, und das reizt offenbar die Neugier der guten Bauersleute.»
    Ich wäre nach dieser Erklärung weitergeritten, hätten mich nicht die Wehklagen einer alten Frau innehalten lassen, die händeringend aus der Herberge trat und schrie, es sei eine Grausamkeit zum Entsetzen und zum Erbarmen.
    «Was gibt es denn?», fragte ich sie.
    «Ach, Monsieur, kommen Sie herein», antwortete sie, «und sehen Sie selbst, ob
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