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Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Autoren: Klaus Funke
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mit sich herum. Auch er hat seine schwere unerträgliche Kindheit, um sich Stück um Stück von ihr zu befreien, auf mannigfache Art in seine Texte eingearbeitet. Oh, welche Qual ist das manchmal gewesen. Erst kürzlich hat er einen Artikel des Wiener Arztes Sigmund Freud gelesen. Der hat über diese unbewältigten Kindheitserlebnisse sogar eine ganze Forschungstheorie und wissenschaftliche Methoden entwickelt.
    Erzählen Sie! rief Karl May deshalb erregt und er war gespannt. Der Maler nahm sich einen Stuhl, setzte sich, stellte das Bild auf seine Knie. In plötzliches Nachdenken versunken, betrachtete er es ein paar Sekunden lang, dann richtete er seinen Blick in irgendeine unbestimmte Ferne und begann:
    Es war der 1. März 81, ein freundlicher, aber kalter Vorfrühlingstag in St. Petersburg. Der Schnee hatte seit ein paar Tagen zu tauen begonnen, die ersten Schneeglöckchen zeigten sich in den Vorgärten und in den Parks. Wir hatten an diesem Tag einen Spaziergang durch die Innenstadt gemacht. Wissen Sie, meine Eltern wohnten zu dieser Zeit mit uns in der russischen Hauptstadt. Ich bin in der Nähe der Wassilijewski-Insel geboren, in einem kleinen Gässchen, der Kussnjewskaja, verwinkelt, krumm, ständig nass, stinkend, aber wunderschön. Ein Malergässchen beinahe. Fast wie hier in der Altstadt von Meißen. Schneiders Augen leuchteten auf, ein Lächeln glitt über seine Wangen. Wir, fuhr er fort, das waren meine Schwester Lilly, dann Anna Sokolewna, unsere Amme, und ich. Zehn Jahre alt war ich damals, Lilly noch nicht einmal acht. Also, wir waren gerade am Gribojedow-Kanal angekommen, als neben uns eine prächtige Kutsche mit Gerassel und großem Gepränge auftauchte, eskortiert von einer Reiterschwadron der kaiserlichen Garde. Zwei weitere Kutschen folgten der ersten in kurzem Abstand. Schaut, der Zar! rief die Sokolewna und zeigte auf die Kutsche. Und tatsächlich, für einen kurzen Moment sahen wir das bekannte gelbe Gesicht mit der hohen Stirn und dem Backenbart, es schien sogar, als ob der Herrscher mit seiner weißen behandschuhten Hand die Passanten, alles Ausflügler und Spaziergänger wie wir, die zahlreich winkend und „Hurra! schreiend am Straßenrand standen, mit einem milden Lächeln grüßte. Ein Junge, etwa im Alter wie Lilly, hochaufgeschossen, mit rotblondem Haar, den eine ältere schwarzgekleidete Dame an der Hand hielt, sie waren die ganze Zeit in kurzem Abstand vor uns hergelaufen, wandte sich um, zeigte aufgeregt auf die Kutsche und schrie: Sieh nur, unser Zar Alexander II.! Die alte Dame wies ihn zurecht: Sergej Wassiljewitsch, bitte, beherrsche dich! Was sollen die Leute denken. Und als der Junge wie wild zu applaudieren begann, rief sie besorgt: Sergej, lass das! Deine Hände! Pass auf deine Hände auf! Wir blickten uns einen Augenblick in die Augen, der Junge und ich. Und ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, er solle auf seine Hände aufpassen. Hatte er besondere Hände? War er krank? Gerade wollte ich die Sokolewna fragen, was die alte Dame vor uns gemeint haben könnte, weshalb der Junge auf seine Hände aufpassen sollte – als ein paar Meter voraus ein junger Mensch in dunkler Kleidung mit einem Zylinder und roter Halsbinde irgendeinen runden kleineren Gegenstand, eine Art Dose, nach der Kutsche des Zaren warf. Fast zeitgleich ertönte ein furchtbarer Knall, eine Rauchwolke stieg auf, Damen kreischten, die Passanten stoben auseinander und die berittene Garde bildete einen schützenden Kreis um die Kutsche des Zaren. Es war klar, ein Attentat auf den Zaren hatte stattgefunden. Und ich war unmittelbarer Augenzeuge gewesen. Ein Tumult entstand und wenig später hatten die Polizei und die Berittenen den Werfer der Sprengladung ergriffen. Ein paar Beamte schlugen auf ihn ein, andere versuchten ihn zu fesseln. Plötzlich stieg der Zar aus der demolierten Kutsche. Er war offenbar unverletzt geblieben. Gehen wir zu Fuß weiter! rief er seiner Begleitung zu. Bis zum Winterpalast ist es nicht mehr weit. Da schrie der Attentäter, wie sich herausstellte, ein Student namens Ryssakow, den man, obwohl er sich heftig wehrte, vor den Herrscher geschleppt hatte, rief mit seltsam krächzender Stimme: Freu dich nicht zu früh, du Scheusal! Du entgehst deiner Strafe nicht!
    Der Zar wandte sich ab, machte eine Handbewegung und der Kerl wurde abgeführt. Mit offenen Mündern, erstaunt und verblüfft stand die Masse der Zuschauer. Niemand sagte etwas. Ein großes Schweigen und Entsetzen war
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