Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Autoren: Klaus Funke
Vom Netzwerk:
– alles schien grotesk durcheinander und in die Höhe zu wuchern, sodass die Fenster nur zu drei Vierteln freie Sicht gewährten. Das Atelier, weiß gekalkt und an den Wänden mit Skizzen auf Pappkarton und Papier, auch mit Gemälden aller Formate, von riesengroß bis kleinformatig, bedeckt, wirkte sehr geräumig und war mindestens drei Meter hoch, indes die Holzdielung aus frisch gehobelten Fichtenbrettern milderte diesen Eindruck und verbreitete eine gewisse Intimität und das Gefühl handwerklicher Solidität. Auch zahlreiche Gipsfiguren standen herum. Männerakte zumeist in den verschiedensten Größen, Abgüsse, Köpfe, allegorische Figuren. Mehrere Staffeleien waren aufgebaut, zwei davon mit Skizzenblättern bespannt. Auf einem kleinen Holzpodest stand, den Eintretenden den Rücken zuwendend, ein junger Mann. Splitternackt. Auf eine zierliche Säule aus hellblau bemaltem Gips gestützt. Er wendete sich nicht um, als er die Männer hinter sich hörte, fragte nur:
    Geht’s jetzt weiter, Sascha. Langsam wird mir kalt.
    Nein, antwortete der Maler, steig nur herab, Mario. Wir machen eine Pause, ich habe Besuch. Zieh dir was über. Der junge Mann kletterte vom Podest herunter und kam, ohne sich zu bedecken, nackt wie er war, auf May zu, gab ihm die Hand. Der, ein wenig verlegen, wusste nicht, wo er hinblicken sollte, nahm dann aber das Gesicht des Modells fest in den Blick. Ein hübscher Junge, dachte er, braun gelockt, mit dunklen Augen.
    Fichter! stellte der sich vor, Mario Fichter, und er machte eine Art Diener, verbeugte sich artig. Angenehm, murmelte May. Und als der Junge das Atelier verließ, schaute er ihm nach. Welch muskulöser Körper, ebene, beinahe griechisch-antike Glieder, die Schultern breit und gerade, ein fester, kleiner Hintern, und wie er geht, das Spiel der Muskeln sieht ästhetisch und beinahe klassisch aus, einem antiken Olympiakämpfer gleich. Ja, solche Körper hat er sich beim Schreiben vorgestellt. Wie sein Winnetou, wie Apanatschi, wie Old Surehand, die Haddedihn, wie alle seine Helden …
    Der Maler hatte Mays Blick gesehen. Er legte seinem Gast die Hand auf die Schulter, sagte: Dieser Junge ist das ideale Modell, ein Körper wie von Polyklet modelliert und dabei ruhig und geduldig. Stundenlang steht er und rührt sich nicht. Und bescheiden ist er, stammt aus einem der Nachbardörfer. Arme Leute. Die Eltern – Häusler, Sie verstehen. Manchmal ist er mit einem guten Frühstück zufrieden. Oder ich gebe ihm einen halben Kuchen mit, den Lilly gebacken hat. May runzelte die Stirn. Bekommt er denn kein Honorar? Doch, natürlich, antworte der Maler, aber wir Bildende Künstler sind arme Gesellen, wir müssen haushalten. Ich kann Ihnen sagen, es gibt Modelle, die begehrt sind, die wollen, wie die Meisterköche, einen Haufen Geld. Kommen Sie, mein Lieber, setzte er ohne Übergang hinzu, ich möchte Ihnen meine jüngsten Arbeiten zeigen. Und er fasste Karl May am Unterarm, geleitete ihn zu den Bildern. Riechen Sie, wie es hier duftet? rief er begeistert, nach Farben und Lösungsmittel, nach frischer Leinewand und feuchter Pappe, das sind meine Parfüms, mein Odem und mein Ambra. May sog die Luft ein und nickte dem Maler zu, oh ja, der rechte Ateliergeruch wäre das, auch er liebe ihn, es wäre beinahe so, als ob man die Kreativität atmen könne.
    Es lag und stand da alles ein wenig bunt durcheinander, gleich neben den Fenstern; Gemälde verschiedenster Formate und Farben, in Öl, Pastell, Kohle, Kreide oder Tempera gefertigt, vieles noch unvollendet, bei manchen Ölbildern die Farben noch nicht einmal trocken, alles an die Wand gelehnt, einige sogar in weißes Leinen gehüllt, dann wieder Grafiken, Bleistiftzeichnungen, Kohlezeichnungen, skizzenhaft die eine oder andere. Die Zeichnungen waren auf einem Holzgestell in großen Pappumschlägen gestapelt.
    Hier, und der Maler schlug bei einer der oben auf dem Stapel liegenden Zeichnungen den großen, grauen Deckel zurück. Hier, Verehrtester, das Allerneueste, sagte er, noch nicht ganz fertig, eine kleine Kohlezeichnung, wie Sie sehen; da werde in den nächsten Wochen intensiver daran arbeiten. Nicht sehr groß, wie Sie sehen. Ich habe es „Die sterbende Menschheit“ genannt, entstanden aus einer plötzlichen Vision, die ich hatte.
    Was sagen Sie dazu, mein lieber Herr Doktor?
    Und er warf seinem Gast wieder einen jener scharfen Prüfblicke zu, mit denen er ihn heute schon ein paar Mal gemustert hatte. May, ohne ein Wort, fasste sich mit zwei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher