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Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Autoren: Klaus Funke
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Fingern an sein Kinnbärtchen, er war vom Anblick des Bildes sichtlich erschrocken, und fast so, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen, trat er ein paar Schritte zurück, nicht nur, weil er den Eindruck, den das Bild sofort auf ihn gemacht hatte, auf diese Weise besser in sich aufzunehmen hoffte, sondern auch, weil er ganz unmittelbar in seinem Innern betroffen war. Was er da sah, war in beinahe zauberischer Weise der Hauptgedanke seiner Erzählung „Und Friede auf Erden“, die seit zwei Jahren unvollendet in der unteren Schublade seines Schreibtisches gelegen und die er jetzt wieder hervorgeholt hatte. Der Maler, der das Erschrecken seines Gastes gesehen hatte, glaubte sich entschuldigen zu müssen. Wie ich sagte, rief er, es ist nur eine Kohlezeichnung, eine Skizze, ein Experiment, mit den einfachen Mitteln des Kohlestiftes. Wissen Sie, in Schwarzweiß eine Aussage zu erreichen, erfordert besondere Konzentration und Technik.
    May, der die Sprache wiedergefunden hatte, äußerte mit heiserer Stimme seine Begeisterung, aber ihn umkreiste unablässig der Gedanke, wie es sein könne, dass dieser bisher ihm unbekannte Mensch, der Künstler Schneider, seine geheimsten Gedanken erraten und auf diese Weise im Bilde festhalten konnte. Vorsichtig fragte er: Und Sie haben wirklich noch nichts von mir gelesen? Auch nicht … er brach ab, denn er dachte wieder an sein „Und Friede auf Erden“. Unmöglich! sagte er sich indes zugleich, nein, unmöglich konnte dieser Maler davon etwas wissen, es lagen ja bisher nur die ersten vier Kapitel in einer Art Vorfassung vor. Und die hatten sicher verwahrt in seinem Schreibtisch geschlummert. Niemand, außer seiner Klara, konnte etwas davon wissen. Selbst dem Fehsenfeld hat er es bisher verschwiegen.
    Und nun dieses Bild! Wie kann so etwas geschehen? Vielleicht, und dies war das Unglaubliche, denn er erinnerte sich, wie er in den letzten Wochen wieder und wieder an den Fortgang der Erzählung gedacht hatte, wie ihm einzelne Kernsätze eingefallen waren, wie er sich Notizen gemacht und kleinere Abschnitte aufgeschrieben hatte und wie er beschlossen hatte, die Sache unbedingt bis zum Herbst zu vollenden. Ja, das hatte er sich vorgenommen. Gibt es eine Art geistiger Übertragung? dachte er jetzt, vor der Schneider’schen Zeichnung stehend. Gibt es eine Wanderung von Gedanken und Intentionen? Kann es zwei derartig verwandte Seelen auf der Welt geben, dass sie, obwohl sie sich gar nicht kennen, zur gleichen Zeit die gleichen Gedanken haben, dass sie womöglich sogar dasselbe zu fühlen imstande sind? May begann zu schwitzen. Er öffnete den Kragen.
    Nein, mein lieber May, hörte er Schneider sagen, es ist mir unendlich peinlich, nicht das Geringste las ich von Ihren Werken, aber ich will das schnellstens nachholen … wenn Sie mir ein paar Ihrer Bücher freundlicherweise zuschicken wollen, dann werde ich … was empfehlen Sie denn, sozusagen als Einstiegsdroge? Er lachte, lief in eine entfernte Ecke und kam mit einer riesigen schwarzen Eisenhantel wieder. Als Sie kamen, sagten Sie, lieber Doktor, Sie hätten eine „Schmetterhand“, ich habe hier meine Hantel, 15 kg schwer, mit der übe ich fast täglich. Und er stemmte das Gewicht in die Höhe, schwang es sich um den Kopf, wechselte es in die andere Hand, griff dann mit beiden Händen zu, machte ein paar Kniebeugen. Sehen Sie, mein Lieber, so hält sich ein Kunstmaler fit, ich bin dazu gewissermaßen verpflichtet, ein Unfall in Kindertagen, wissen Sie, ich muss die Muskeln trainieren …
    Wollen Sie nicht auch mal?
    May machte eine abwehrende Handbewegung. Nein, nein, dazu bin ich zu alt.
    Der Maler sah seinem Gast wieder prüfend ins Gesicht und wandte sich erneut den Bildern zu. Hier habe ich, rief er, und präsentierte, indem er es hochhielt, ein weiteres kleineres Bild. Das sind meine russischen Erinnerungen! sagte er und seine Stimme klang auf einmal weich und voller Wehmut. Er wendete das Bild zum Licht. Es ist eine sogenannte Blei-Kohlezeichnung, erklärte er. Sie heißt „Der Anarchist“. Und da May schwieg, redete er weiter, vor fast neun Jahren habe er sie gemacht, habe damit ein altes, lange verdrängtes Kindheitstrauma verarbeitet, ja er habe es geradezu aufgreifen müssen. Es sei wie ein Zwang gewesen. May schaute dem Maler interessiert ins Gesicht. Derartiges faszinierte ihn. Er weiß am eigenen Beispiel, Kindheitsprägungen, seelische Verletzungen aus Kindertagen schleppt man lange, manchmal ein ganzes Leben
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