Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geisel

Die Geisel

Titel: Die Geisel
Autoren: G. M. Ford
Vom Netzwerk:
versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Kehoe zu bringen.

4
    Das Haus lag in Schatten gehüllt, als sie die Tür aufschloss und in den Flur trat. Melanie Harris hörte den laufenden Fernseher aus dem Wohnzimmer. Der lange, geflieste Flur wurde nur durch die Wellen bläulichen Lichts erleuchtet, das von den Wänden und der Decke reflektiert wurde. Sie zog die Schuhe aus und ging in den hinteren Teil des Hauses. Die kalten Fliesen massierten ihre Füße.
    Brian hatte es sich auf dem übergroßen Morris-Sessel mit einer Schale Popcorn aus der Mikrowelle im Schoß gemütlich gemacht. Sie stand einen Moment neben dem Sessel, hoffte, er würde ihre Anwesenheit zur Kenntnis nehmen oder, noch besser, ein bisschen rutschen, damit sie sich nebeneinander in den Sessel quetschen konnten, Hüfte an Hüfte, wie früher. Stattdessen starrte er auf den Fernseher.
    »Hallo«, sagte sie.
    »Hallo«, antwortete er, ohne seine Augen vom Bildschirm abzuwenden.
    »Tut mir leid wegen heute Nachmittag.«
    »Ja« war alles, was er erwiderte.
    Sie wartete noch einen Augenblick, dann ging sie vor ihm durchs Zimmer und setzte sich auf die Couch auf der anderen Seite. »Wie war dein Tag?«, erkundigte sie sich.
    »Derselbe Scheiß wie immer.«
    Die Spannung in der Luft war spürbar wie ein Windhauch. Sie zögerte, etwas zu sagen, weil sie die Diskussion nicht anfangen wollte, die sie beide in den letzten paar Monaten so sorgsam vermieden hatten.
    »Vielleicht schaffen wir es ja nächste Woche an den Strand.«
    »Der Strand ist mir egal. Ich kann jederzeit zum Strand gehen.«
    »Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut. Was willst du noch?«
    Jäh brach er in freudloses Lachen aus. »Seit wann kommt's hier denn darauf an, was ich will?«
    »Es ist etwas dazwischengekommen. Ich hatte zu tun. Was soll ich sagen?«
    »Keine Sorge. Du brauchst nichts zu sagen.«
    Sie seufzte. »Nicht heute Abend, ja? Ich hatte einen langen Tag.«
    »Du hattest immer einen langen Tag.«
    Ihre Stimme wurde lauter: »Was soll das heißen?«
    »Nur das, was ich gesagt habe.« Er richtete sich auf. Warf die Schüssel mit dem Popcorn schwungvoll auf den Couchtisch, wo sie einmal aufhüpfte, bevor sie zur Ruhe kam. Er streckte die Arme steif über die Seiten des Sessels hinaus wie ein Schiedsrichter beim Baseball. »Das war's«, verkündete er. »Mir reicht's.«
    »Was reicht dir?«
    »Alles. L.A. Cocktailpartys für Sponsoren, Partys im Sender. Einfach alles. Mir steht das alles bis hier.«
    Ihr blieb die Stimme im Hals stecken. »Ich auch?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Leg mir nichts in den Mund.«
    Sie war jetzt aufgestanden. »Eine Menge Leute wäre froh, da zu sein, wo wir jetzt sind.« Sie presste die Lippen zusammen, bevor sie etwas heraussprudeln konnte von wegen Dankbarkeit für das Zwei-Millionen-Dollar-Haus in den Hollywood Hills, die BMWs, die Hausmädchen, den Gärtner.
    »Ja … Na ja, ich gehöre wohl nicht zu denen«, meinte er.
    Melanie holte mehrmals tief Luft, um sich zu beruhigen, und setzte sich wieder.
    »Ich glaube, ich habe ein bisschen Gutes getan. Du weißt schon, damit vielleicht das, was Samantha passiert ist …« Der Klang des Namens hielt sie einen Augenblick auf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal laut ausgesprochen hatte.
    Brian winkte ab, als wüsste er, was jetzt käme, und könnte es nicht mehr hören. »Ist es das, was du dir einredest? Dass es um Samantha geht? Das ist doch ein Witz!«
    »Ach ja?«
    »Ja. Wem wollen wir hier was vormachen? Es geht doch längst nicht mehr um Samantha. Es geht um dich.«
    »Wie kannst du nur so was sagen?«
    »Weil es stimmt. Was du für Kinder tun konntest, hast du getan. Aber heutzutage geht's um die Quoten. Es geht darum, wer diese Woche das Rennen macht. Es geht um den richtigen Wochentag und den Sendeplatz.« Er unterstrich seine Worte mit einer abfälligen Handbewegung. »Es geht um alles Mögliche, nur nicht um das, weswegen wir hergekommen sind.«
    Für Melanie war ihr Leben in Michigan kaum mehr als eine verschwommene Erinnerung. Es war, als hätte ihr Leben erst in jenem schrecklichen Moment wirklich begonnen, als das Telefon geklingelt und die kalte, deutliche Stimme ihr mitgeteilt hatte, dass der Leichnam ihrer Tochter gefunden worden sei. In diesem Augenblick waren die siebenundzwanzig Jahre ihres bisherigen Lebens verschwunden und hatten sie nur mit dem Hier und Jetzt zurückgelassen.
    Für Brian war das Leben in Hollywood wie ein schlechter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher