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Die geheime Welt der Frauen

Titel: Die geheime Welt der Frauen
Autoren: Ilana Stanger-Ross
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gehängt, dunkle Strumpfhosen unter Faltenröcken. Sima erkannte die Yeshiva-Mädchen an ihrer Uniform: Bais Rivkah trugen weiße Blusen, blaue Pullunder und blau karierte Röcke, Bais Tzipporah hellblaue Bluse und dunkelblauen Rock. Auf der anderen Straßenseite wandten ein paar Jungen die Augen ab, glotzten wieder, sahen weg und glotzten erneut. Sie kleideten sich genauso wie ihre Väter: schwarze Anzüge, weiße Hemden, schwarze Hüte und Schuhe, Schläfenlocken, die an den Ohren herunterbaumelten. Der einzige Unterschied war das Fehlen der Bärte. Sie ließen sich Bartstoppeln stehen auf der Oberlippe und rieben die dünn bewachsenen Stellen auf den Wangen. Sima wusste, was sie nicht recht glauben konnten -
der Bart würde wachsen. Und mit ihm würden sich Frau und Kinder einstellen.
    Sima ging an den Mädchen vorbei, nickte einer, Sarah Golds Tochter, grüßend zu, obwohl sie sich nicht an ihren Namen erinnerte.
    Als sie die Straße überquerte, eilte ein Mann an ihr vorbei, sehr nahe, aber er achtete darauf, sie nicht zu berühren. Sima sah ihm nach, während er sich entfernte und laut auf Jiddisch in sein Mobiltelefon redete. Obwohl sie die 13. nicht hinuntergehen konnte, ohne jemandem über den Weg zu laufen, den sie kannte, waren dies, abgesehen von den Ladenbesitzern, fast nur Frauen. Männer kamen nicht in ihr Geschäft. Nicht einmal von ihren treuesten Kundinnen kannte sie die Ehemänner. Und obwohl sie jede chassidische Sekte an winzigen Unterschieden der männlichen Kleidung unterscheiden konnte - an Hut, Mantel oder bestimmten Strümpfen -, war sie selbst keine gläubige Jüdin, sondern eine Außenseiterin.
    Boro Park war immer ihr Zuhause gewesen und ihr Geschäft ein fester Begriff im Viertel. Aber niemand versammelte sich an ihrem Tisch zum Sabbatmahl, niemand erzählte ihr von dem Klatsch vor der Synagoge am Samstag. Lev sprach manchmal davon wegzuziehen - nach Florida, wie alle anderen. Aber sie wusste, dort würde sie es nicht aushalten: die Highways, die Shopping Malls, die Straßen, die sich ineinander verhedderten, die dunklen Sackgassen, in denen man in eine Falle lief.
    Sie mochte das nummerierte Gitterwerk, so hässlich es auch war. Sie mochte sogar den Lärm, den Verkehr, die Grobheit. Denn für jeden Ladenbesitzer, der freundlich lächelnd Hallo sagte, gab es einen anderen, der in ein Mobiltelefon brüllte und dabei wütend gestikulierte.
    Boro Park war wie ein Dorf.
    Sima konnte in einen vorbeifahrenden Kinderwagen blicken
und im Gesicht des schlafenden Babys das der Großmutter erkennen, weil sie Generationen der Familien kannte. Gemeinsam bewegten sie sich durch die Tage, die Wochen und Jahreszeiten, die Hetze und die Ruhe des Sabbats, die Freuden der Feiertage. Ende August war in den Schaufenstern das Beste für die hohen Festtage zwischen Rosh Hashana und Jom Kippur ausgestellt: schwarzer Samt für die Mädchen, Wollkostüme für ihre Mütter. Ein paar Wochen später konnte man von geparkten Lastwagen lulav und etrog kaufen - Palmwedel, Weide und Myrte zum Strauß gebunden, dazu die Zitrusfrucht -, während Familien zu Ehren des Erntedanks in Gassen und auf Balkonen ihre eigene sukkot, ihre provisorischen Hütten, errichteten. An Simchat Torah tanzte man auf der Straße, an Chanukka gab es Doughnuts in den Bäckereien. Für Purim quollen die Kleidergeschäfte für Kinder über vor Kostümen, und jede Schule feierte ihren eigenen Karneval. Am Tag vor Pessach brannten kleine Häufchen aus Brot auf den Straßen, und die Feuer wurden sorgfältig von den Ladenbesitzern bewacht, die neugierige Schulkinder fortscheuchten.
    Selbst für Sima, die so wenig daran teilnahm, brachten die Festtage Freude und Trost. In Boro Park herrschte Ordnung im flüchtigen Lauf der Zeit.
    Es half.
    Sima ging zum Metzger und kaufte Hühner- und Ochsenbrust. Sharif, ein junger Türke, dem die Einheimischen den Spitznamen Sheriff gegeben hatten, tippte ihre Einkäufe ein, während sie je einen Vierteldollar in die aufgereihten Spendenbüchsen warf: für die lokale Ambulanz, koschere Essenspakete für israelische Soldaten und für Behandlungen bei Unfruchtbarkeit. »Ich werde euren Samen vermehren wie die Sterne des Himmels«, stand auf der letzten Büchse.
    Vor dem Milchgeschäft traf Sima Tova Braunschweiger, die
gelegentlich bei ihr kaufte. Sie begrüßten sich mit Küsschen. Sima erkundigte sich nach ihren Enkelkindern, und Tova versprach, bald vorbeizukommen. Nachdem sie sich einen »Guten Shabbes«
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