Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
verkrustetem Lehm und Erde. Geäst und Gras waren in seinem Haar hängengeblieben und gaben den Anschein, als wäre beides mit ihm verwachsen.
    Ein Ziegenhirte, dachte Alaïs erleichtert.
    »Bitte …«, sagte sie wieder, »die Kinder … Ich muss sie doch in Sicherheit bringen vor dem großen Sterben.«
    Der Knabe glotzte mit reglosem Blick. Seine Augen glichen tiefschwarzen Löchern, aber vielleicht wirkte das nur so, weil es schon dunkel war. Régine und Gaspard hatten ihre Stimme gehört und trotz des strengen Befehls, sich nicht zu rühren, waren sie nähergekommen. Régine ergriff ihre Hand, Gaspard schmiegte sich an sie.
    In der Miene des Ziegenhirten regte sich immer noch nichts. Wenigstens war er nicht feindselig. Weder beschimpfte er sie, noch trieb er sie aus dem Haus.
    »Unten …«, setzte Alaïs an und deutete in Richtung Tal, »unten sind alle Menschen krank … oder tot.«
    Nun öffnete der Ziegenhirte den Mund, doch heraus kam keinWort, nur ein kehliger Laut. Sie sah schiefe Zähne, jedoch keine Zunge dahinter. Hatte man sie ihm herausgerissen oder war er ohne Zunge geboren worden? Konnte er nur nicht reden oder war er ganz ohne Verstand?
    Sie konnte es nicht entscheiden, roch nun freilich, inmitten des Gestanks, auch den würzigen Duft von Käse. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung und Hunger.
    »Bitte … können wir hierbleiben?«, fragte sie.
    Keinerlei Verständnis breitete sich in seiner Miene aus, aber immerhin verstellte er ihnen nicht länger den Weg, sondern trat nun zurück. Gleichwohl die Hütte so erbärmlich war, seufzte Alaïs erleichtert auf.
    Sie waren in Sicherheit, das fühlte sie deutlich. Nicht nur, weil sie in dieser Einöde überhaupt auf einen Menschen getroffen waren, sondern weil dieser Mensch vom großen Sterben nichts wusste und, als sie ihm davon berichtete, nichts davon verstand.

----
XLII. Kapitel
----
    Die nächsten Tage verlebte Alaïs, als hätte es kein Zuvor gegeben und als würde kein Danach mehr kommen, als wäre die Welt auf dieses sonderbare Haus geschrumpft, die Wiese davor, den Berghang dahinter, die grasenden Ziegen. Die Ziegen nährten sie – nicht nur durch Milch und Käse, sondern obendrein, indem sie ihnen den Weg über den schroffen Hang wiesen und sie grade – wegs zu einer Stelle führten, wo dicke, saftige Beeren wuchsen. Alaïs kannte die Früchte nicht, aber nachdem sie sie selbst gekostet und vertragen hatte, gab sie den Kindern davon. Deren Befremden über das sonderbare Haus und den noch eigenartigeren Bewohner währte nicht lange. Sie hatten zu essen, zu trinken und mussten nicht mehr gehen – das genügte fürs Erste, sodass sie schon am nächsten Tag lachend um die Hütte stoben.
    Alaïs warf immer wieder vorsichtige Blicke auf den Ziegenhirten, rechnete insgeheim damit, dass er sein wahres Gesicht zeigen würde, das hinter dem vermeintlichen Gleichmut lauerte. Doch schließlich fand sie heraus, dass von ihm tatsächlich nicht mehr zu erwarten war als das stets gleiche dumpfe Glotzen und diese kehligen Laute. Die Ziegen schienen ihn zu verstehen und kamen zutraulich näher, wenn er sie lockte – auch die eine, die er liebevoll streichelte, um ihr gleich danach die Kehle durchzuschneiden und sie ausbluten zu lassen.
    Was er von den ungebetenen Gästen hielt, bekundete er nicht. Dass er sie mit Fleisch versorgte, schien das Schlechteste nicht zu bedeuten, und sie war ihm dankbar dafür, auch wenn sie ihm das nicht sagen konnte.
    Nun, da sie die Muße hatte, achtete sie auf jedes verräterische Zeichen ihres Körpers. Vielleicht trug sie die teuflische Saat noch in sich. Vielleicht würden auch an ihr noch die grässlichen Beulen wachsen oder an den schutzlosen Leibern der Kinder. Doch Tag um Tag verging, und mit den Strapazen des langen Marsches verblasste auch die Erinnerung an das Leiden der Menschen, die sie zurückgelassen hatten.
    Nach diesen begannen Régine und Gaspard freilich zu fragen. Wann die Eltern nachkämen. Wo die anderen Kinder von Saint – Marthe wären. Und wann sie wieder dorthin zurückkehren würden.
    Alaïs machte ein geheimnisvolles Gesicht und versuchte, sich ihre Trauer nicht anmerken zu lassen. »Noch ist dieses Abenteuer nicht ausgestanden«, erklärte sie, als wäre alles, was geschehen war, Teil eines vorher beschlossenen Plans und der Aufenthalt beim Ziegenhirten nur ein weiterer Zug in einem aufregenden Spiel.
    Sie wusste nicht, wie lange sie die beiden im Zaum halten konnte, aber da sie ohnehin vermied,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher