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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus
Autoren: Julia Kröhn
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weiter als bis zum nächsten Morgen zu denken, war ihr Régines und Gaspards Drängen noch keine allzu große Last.
    Obwohl sie sich damit abgefunden hatte, dass er sichtlich verblödet war, versuchte sie doch, zumindest den Namen des Ziegenhirten herauszufinden. Mehrmals deutete sie auf sich und sagte Alaïs – und ähnlich verfuhr sie mit den Kindern. Der Zie – genhirte verzog seinen Mund. Es war nicht gewiss, ob er zu lächeln versuchte oder ob es ihn mit Grimm erfüllte, sich nicht äußern zu können. Am Ende schließlich stieß er einen seiner kehligen Laute aus, und obwohl der alles hätte bedeuten können und nichts, entschied Alaïs, dass er am ehesten nach Soubiran geklungen hatte.
    »Du heißt Soubiran, nicht wahr?«, fragte sie immer wieder. Der Ziegenhirte glotzte. Weder nickte er noch schüttelte er den Kopf, und das genügte ihr als Zustimmung, um ihn fortan so zu nennen.
    Etwas wacher wurde sein Blick, wenn sie ihn nach den Geräten und dem Geschirr befragte, die an den Wänden der Hütte hingen. Mochte er auch nicht richtig im Kopf sein, so verstand er es doch vorzüglich, mit einfachsten Mitteln in diesem kargen Leben zu bestehen. Er besaß eine Sichel, die er mit Steinen schliff, und ein kleines Messer, mit dem er Holz zu schnitzen verstand. Die runden Schüsseln, in denen er die Milch der Ziegen auffing, hatte er wohl selbst gefertigt, desgleichen vielerlei sonderbare Figuren, von denen sich nicht sagen ließ, ob es Menschen waren oder Tiere. Vielleicht verhießen sie die Gestalt, die zu sein er sich selber vorstellte. Ja, vielleicht hatte er so viele Jahre einsam hier zugebracht, dass er gar nicht mehr wusste, dass er sich von den Ziegen unterschied.
    Die Kinder beäugten die geschnitzten Figuren zunächst misstrauisch, aber da es ansonsten so wenig zu bestaunen gab, wagten sie es schließlich, sie anzufassen und mit ihnen zu spielen. Sou – biran gewährte es ihnen – Alaïs glaubte sogar, dass es ihm gefiel. Denn an einem Nachmittag hockte er sich auf seine Fersen und schnitzte eine neue Gestalt, die man mit etwas Phantasie für eine langhaarige Frau halten konnte.
    Das Holz holte er von den dürren, knorrigen Bäumen, die noch in der Höhe wuchsen und deren Wurzeln sich teilweise über Felsen rankten wie Schlangen. Alaïs half ihm, einen dieser Bäume zu fällen, doch als sie versuchte, später ein Feuer zu machen, schrie er entsetzt auf. Noch ehe Funken stoben, ja, schon als der erste Rauch aufstieg, sprang er auf, begann im Kreis herumzulaufen und stampfte in den Boden, als wollte er ein Loch hineinhauen, um auf ewig darin zu versinken.
    »Ruhig, ruhig«, beschwichtigte ihn Alaïs, während die Kinder vor Schreck über dieses ungebärdige Benehmen zu weinen begannen. »Es geschieht dir doch nichts!«
    Rasch trat sie auf das Holz, ehe es zu glimmen begann und ihn noch mehr verschreckte. Mit Mühe verbarg sie, wie verzweifelt sie sich fühlte: nicht nur, dass die Nächte unerträglich kalt waren. Obendrein brachte sie es nicht über sich, das Fleisch derZiege, die Soubiran geschlachtet hatte, roh zu verzehren wie dieser.
    Zwar fand sie am nächsten Tag einen Weg, Soubiran zu überlisten, indem sie die Zeit, da er hingebungsvoll schnitzte, nutzte, um das Feuer ein Stückchen von der Hütte entfernt zu entzünden und das Fleisch hier zu braten, doch mehr und mehr reifte der Gedanke, dass sie hier nicht auf ewig bleiben konnten. Mochte die Hütte im Sommer noch annehmbar sein – wie sollten sie erst hier leben, wenn der Herbst kam?
    Sie ertappte sich dabei, immer häufiger ins Tal zu schauen, als hoffte sie insgeheim auf einen Lockruf, auf die Verheißung, dass keine Gefahr mehr drohte und der Tod seinen Appetit verloren hatte. Doch dergleichen Zeichen kam nicht, und wenn sie dann später die Kinder beobachtete, wie sie in der Nähe der Quelle balgten, Soubiran begeistert beim Schnitzen zusahen und sich hungrig über das eintönige Mahl hermachten, so verschob sie diese Entscheidung auf später.
    Eines Tages schließlich ward sie ihr abgenommen. Es war gegen Abend. Sie hockten bereits in der Hütte, und Alaïs plagte sich damit, Régines Haare zu entwirren. Zu diesem Zwecke still sitzen zu bleiben und das schmerzhafte Ziepen zu ertragen, fiel dem Mädchen alles andere als leicht. Es flehte, quengelte und schimpfte.
    »Soll ich es dir einfach abscheren?«, fragte Alaïs schließlich ungehalten. Sie hatte sich immer bemüht, ihre Anspannung vor den Kindern verborgen zu halten, aber in diesem
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