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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus
Autoren: Julia Kröhn
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für einen Geist.
    »Er tut euch nichts«, sagte Alaïs knapp, ohne seine Anwesenheit zu erklären.
    Am dritten Tag wagte Régine die Mutprobe, sich so nah wie möglich an den grässlichen Mann heranzuwagen, um dann beizeiten schreiend den Rückmarsch anzutreten. Dieses Schreien wiederum verschreckte Gaspard, der ohnehin verängstigt genug war. Seit Aurel aufgetaucht war, sprach er kaum, aß wenig und fühlte sich am wohlsten, wenn er sich an Alaïs festklammern konnte.
    Das Kind setzte ihr zu – und noch viel mehr die Frage, wie es weitergehen sollte. Sie konnten nicht ewig hier leben, auf die Gastfreundschaft des schweigenden Hirten zählen, mussten irgendwann zurück in die Welt, auch wenn jene nicht mehr die war, die sie kannten.
    Wie aber sollten sie leben? Und wovon?
    Bislang war es ihr gelungen, vor sämtlichen Fragen davonzulaufen, doch als Régine wüste Vermutungen über den furchterregenden Fremden anstellte, wusste Alaïs, dass sie es nicht mehr vor sich herschieben konnte.
    Sie kniete sich nieder, damit sie auf Augenhöhe mit dem Mädchen war, fuhr ihr durchs schwarze Haar und zog auch Gaspard noch enger an sich.
    »Der Mann ist weder ein Räuber noch ein Geist. Er sieht so grässlich aus, weil er schwer krank war … Und ihr seid verwandt mit ihm, er ist der Onkel eurer Mutter.«
    »Ich will heim zu Mutter!«, erklärte Gaspard weinerlich.
    Alaïs seufzte. »Zuvor müssen wir eine Reise machen. Eine weite Reise.«
    »Wohin?«, fragte Régine mit neugierigem Blick.
    »Ich weiß nicht, wohin … aber dieser Mann … Aurel … euer Oheim – er wird uns begleiten.«
    Mit diesen Worten stand sie auf und wies die Kinder an, in der Hütte zu bleiben. Im Freien stapfte sie entschlossen auf Aurel zu. In den letzten Tagen hatte sie das Essen stets ein paar Schritte von ihm entfernt niedergestellt, nun trat sie so nahe zu ihm wie am ersten Tag.
    »Steh auf!«, befahl sie knapp. »Binde dir dein Holzbein um!«
    Seine Augen reagierten träge. Es dauerte Ewigkeiten, bis er den Blick hob und sie anstarrte. Er sah nicht mehr ganz so furchterregend aus wie bei seiner Ankunft. Womöglich hatte sie sich an seinen Anblick gewöhnt, womöglich waren die Male der Krankheit – gleichwohl sie niemals schwinden würden – etwas verblasst.
    Er folgte ihrem Befehl, band sich sein Holzbein um und stand auf. Doch seine Stimme klang trostlos. »Ich kann die Krankheit nicht sehen. Ich werde … ich werde nie ein großer
Cyrurgicus
sein.«
    »Vielleicht bist du der größte, vielleicht hättest du der größte sein können, vielleicht auch nicht – es ist mir völlig gleich. Was nun zählt ist, dass du, ob groß oder klein,
Cyrurgicus
bist, auch weiterhin. Wenn es dort unten tatsächlich Menschen gibt, die das große Sterben überlebt haben, dann werden sie einen wie dich auch künftig brauchen.«
    Er stand unsicher, schien sich nur mühsam aufrecht halten zu können. Sie blickte an ihm vorbei ins Land. Dunst bedeckte die Täler, nur Spitzen des schroffen Berglands ragten aus dem grauenSchleier, den die kranke Welt übergestreift hatte, um ihre Narben zu verbergen.
    »Was meinst du?«, fragte er verständnislos.
    »Ich habe zwei Kinder großzuziehen und zu ernähren. Was schert es mich da, ob du die Krankheit sehen kannst oder nicht? Du kannst als
Cyrurgicus
Geld verdienen, und ich werde dir dabei helfen. Wir sind alt, aber wenn wir uns mit vereinten Kräften darum mühen, dann werden wir alle irgendwie davon leben können.«
    Er wankte noch stärker.
    »Alaïs … ich kann das nicht … nicht mehr …«
    Sie stampfte ungeduldig auf. »Natürlich kannst du!« Ihre Stimme war nicht lauter als ein Flüstern. »Du kannst und du wirst, Aurel! Wag es nicht, dich dieser Pflicht zu verweigern. Es sind Emys Enkelkinder. Und wir beide, Aurel, du und ich, tragen die Verantwortung für sie.«
    Sie wartete seine Zustimmung nicht ab.
    Ihr Blick löste sich vom nebelverhangenen Tal – dem Land, in dem sie die nächsten Monate und Jahre herumziehen würden. Kurz streifte sie die Ahnung von einem Leben, wie sie es sich immer erträumt hatte, frei, ungebunden, heimatlos. Doch diese Träume fanden in ihrer Buntheit, Unbeschwertheit und ihrer Lieblichkeit keinen Halt – nicht in dieser Welt, nicht nach dieser Seuche.
    Emys letzte Worte fielen ihr ein. »Jetzt werde ich frei sein. Nicht ihr.«
    Mit raschen Schritten ging sie zurück zur Hütte des stummen Ziegenhirten, um die Kinder für den Aufbruch zu rüsten.

Zeittafel
Die
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