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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus
Autoren: Julia Kröhn
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niemals richtig verstehen können, lediglich vermuten, dass einer, der sich sein Leben lang so schonungslos kranken Menschen ausgesetzt hatte, vielleicht robuster gegen giftige Dämpfe war.
    »Wenn man ihnen die Botschaft bringt, dass es vorbei ist … dann werfen sie keine Steine mehr.«
    Kurz verstand sie nicht, was er meinte. Dann erst begriff sie, dass Menschen aus den Dörfern, die sie passiert hatten, ihm den Weg gewiesen hatten, den eine alte Frau und zwei Kinder genommen hatten.
    »Durst«, murmelte er nach einer Ewigkeit, da das Licht ermattet war und die Wolken dunstig rote Fäden zogen. »Ich habe schrecklichen Durst.«
    Das letzte Mal, da sie ihm begegnet war, hatte er auch um Wasser gefleht.
    »Dort hinten ist eine Quelle«, murmelte sie barsch. »Aber komm den Kindern nicht zu nahe. Wer … wer weiß, was du uns bringst.«
    Immer noch erfüllte seine Genesung sie mit Misstrauen.
    Er setzte sich halb auf. »Ich habe überlegt, warum ich nicht gestorben bin«, sagte er. »Gentile da Foligno, ein großer Medicus, sprach vom Pesthauch, der sich in Herz und Lunge verdichtet und schließlich durch die Haut platzt. Vielleicht … vielleicht habe ich ihn irgendwie ausgeschieden …«
    Sie hatte sich schon abgewandt, nun drehte sie sich zu ihm um. »Ich dachte, es gäbe keine Erklärung für die Seuche … und keinen Schutz vor ihr,«
    »Vielleicht gibt es eine Erklärung, nur können wir sie nicht sehen. Henri de Mondeville sagte, dass Gott und die Natur nichts umsonst tun.«
    Gedankenverloren blickte er auf den schroffen Boden vor sich. »Wir können sie nicht sehen«, wiederholte er. »Wir können sie einfach nicht sehen.«
    »Was?«
    »Die Seuche. Wir sind blind für sie. Vielleicht, weil sie so klein ist, so unendlich klein. Und wenn wir Dutzende Leichen aufschneiden, wenn wir sie in viele kleine Teile zerstückeln … sie ist noch viel kleiner.«
    Alaïs schüttelte verwirrt den Kopf. Wie konnte er eine Krankheit klein heißen, die ganze Dörfer ausgerottet hatte?
    Die Qualen, die sein vernarbter, schwitzender, bleicher Körper spiegelte, mussten auch seinen Verstand angegriffen haben.
    »Wir können sie nicht sehen«, sagte er wieder. »Ich kann sie nicht sehen. Ich dachte stets, wenn ich nur ganz genau hinschaue … wenn ich in jede Tiefe des Körpers schneide … wenn nichts mir verborgen bliebe … dann könnte ich sämtliche Krankheiten heilen.«
    Er blickte sie an, und seine braunen Augen, gleichwohl glanzlos, waren das Einzige, was an den alten Aurel erinnerte.
    »Ja«, stieß Alaïs bitter aus, »ich weiß. Den Tod und die Krankheit hast du dir immer ganz genau angeschaut. Hättest du nur mich einmal gesehen!«
    Er senkte den Blick.
    »Damals auf dem Dorfplatz«, fuhr sie fort. »Nachdem du Louise das Kind aus dem Leib geschnitten hast, da habe ich getanzt, bis Frère Lazaire gekommen ist und das Vergnügen gestört hat. Ja, ich habe getanzt und mein Haar ist durch die Luft gewirbelt, und ich wollte, dass du mich ansiehst, dass dieser fremde
Cyrurgicus,
der sich ganz anders verhielt als die Männer, die ich kannte, seinen Blick auf mich wirft und sich denkt: >Was für ein hübsches Mädchen diese Alaïs doch ist!< Vielleicht hätte ich dann einfach weitergetanzt und aus vollem Herzen gelacht und meine Hüften gewiegt. Und vielleicht hätte ich nie wieder einen Gedanken an dich verschwendet. Ich hätte mich voll Ekel von dir abgewandt, als ich dich später dabei erwischt habe, wie du Tote aufgeschnitten hast, um die Krankheiten zu sehen – denn ich hätte dir nichts mehr beweisen, hätte nicht mehr um dein Lob und deine Anerkennung kämpfen müssen.«
    Sie hatte die Arme über ihre Brust geschlagen, fröstelte nun. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Worte ihn erreicht hatten.
    »Ich kann sie nicht sehen«, sagte er nur wieder und wieder.
    »Wenn du willst, bringe ich dir zu essen«, sprach sie barsch. »Aber komm uns nicht zu nahe!«
     
    Er hielt sich an ihre Befehle. Er wusch seine Lumpen an der Quelle aus und nahm dankbar ihr Essen entgegen, aber er mied die Hütte. Er schlief auf kalter Erde und unter freiem Himmel, doch weder Kälte noch harter Boden schienen ihm etwas anhaben zu können. Einer, der das große Sterben überlebt hatte, mochte wohl auch sämtliche anderen Naturgewalten ertragen. Während Alaïs Ziegen molk, Käse machte, die Kinder beschäftigte, tat er nichts weiter, als dazuhocken und vor sich hin zu starren.
    Die Kinder hielten ihn zunächst für einen finsteren Räuber, dann
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