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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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sie wieder in ihr Arbeitszimmer hinauf, schloss die Tür ab, passte das Kleid an und drehte vor dem Spiegel langsame Pirouetten. Obwohl ihr bewusst war, dass sie eitel und sündhaft handelte, empfand sie es als angenehm, von diesen Stoffen, deren Farben ihre Haut wärmer erscheinen ließen, umhüllt zu sein. Was für ein Gegensatz zu den unscheinbaren Kleidern, die sie außerhalb des Zimmers tragen musste, die gesitteten Kleider, die der Glaube ihr vorschrieb, hochgeschlossen und wadenlang, pastellfarben oder dezent geblümt. Pflichtbewusst trug sie diese Teile, verstand, dass diese in einer Welt der Versuchung nötig waren. Doch sie hasste es, sie morgens anzuziehen, und kein Gebet auf der Welt konnte diese Gefühle ändern.
    Hannah war sich ihrer eigenen rebellischen Natur bewusst. Ihre Eltern hatten sie ihr ganzes Leben lang dafür gescholten und sie dazu gedrängt, ihrer Schwester nachzueifern. Becca war ein heiteres, gehorsames Kind und schwamm mit einer Leichtigkeit, um die Hannah sie beneidete, durch ihre Jugend hindurch zum Frausein. Becca wehrte sich nie dagegen, Gottes Plan zu folgen, sie zweifelte nichts an und sehnte sich nie nach mehr . Hannah versuchte, wie ihre Schwester zu sein, doch je mehr sie ihre wahre Natur unterdrückte, desto stärker platzte es aus ihr heraus, wenn ihre Entschlossenheit nachließ, und das passierte zwangsläufig recht oft. Als Teenager bekam sie ständig irgendwelche Probleme wegen der einen oder anderen Sache: Sie probierte Lipgloss aus, machte verbotene Recherchen auf ihrem Port, las Bücher, die ihre Eltern als verderbend ansahen. Meist jedoch tat sie das, um Antworten auf die Fragen zu finden, die sich in ihrem Kopf so beharrlich ihren Weg bahnten: »Warum ist es für Mädchen unanständig, Hemden zu tragen, aber nicht für Jungen?«, »Weshalb lässt Gott unschuldige Menschen leiden?«, »Wenn Jesus Wasser in Wein verwandelt hat, warum ist es dann falsch, Wein zu trinken?« Diese Fragen verärgerten ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter. Zur Strafe ließ diese sie stundenlang schweigend dasitzen, um über ihre Vermessenheit nachzudenken. Gute Mädchen, das verstand Hannah, fragten nicht nach dem Warum. Sie ließen derartige Fragen nicht einmal in ihren intimsten Gedanken zu.
    Die Kleider hatten sie über all das hinweggerettet, zumindest zeitweise. Sie hatte schon immer das Talent für Näharbeiten, und die Wände im Payne-Haus waren bedeckt mit ihren Proben. Sie reichten von einfachen Kreuzstichen aus frühen Jahren – JESUS LIEBT MICH, EHRE VATER UND MUTTER, GIB SATAN NACH UND ER WIRD DER HERRSCHER SEIN – bis hin zu feinen gestickten Versen, die mit Lämmern, Tauben und Kreuzen versehen waren. Sie hatte für ihre und Beccas Puppen Kleider genäht, auf die Schürzen ihrer Mutter Blumen gestickt und die Buchstaben JWP auf die Taschentücher ihres Vaters. All das nutzte sie als Friedensangebot, wenn sie wieder einmal in Ungnade gefallen war. Aber nichts von alledem füllte sie wirklich aus oder vertrieb die Fragen, die in ihrem Kopf umherkreisten.
    Und als sie achtzehn war, entdeckte sie zufällig einen Stoffballen mit violetter Seide, der in einer Kiste mit Angeboten eines Stoffgeschäftes vergraben lag. Von dem Moment an, als sie ihn erspähte, hatte sie gewusst, dass sie ihn besitzen musste. Der Stoff schimmerte in einer tiefen, geheimnisvollen Schönheit, die, so schien es, direkt nach ihr rief. Sie ließ die Finger liebevoll darübergleiten, und als ihre Mutter ihr den Rücken zukehrte, lehnte sie sich hinunter und rieb den weichen Stoff an ihrer Wange. Becca fauchte warnend, als die Mutter zurückkam. Hannah ließ den Stoff fallen, doch das sinnliche Gefühl der Seide blieb auf ihrer Haut zurück. In dieser Nacht begann sich in ihrem Geist ein violetter Schatten zu formen, zuerst verschwommen, dann immer schärfer, je länger sie darüber nachdachte: ein Abendkleid mit langen Ärmeln, einem hohen Ausschnitt und einem tief ausgeschnittenen Rücken – ein Kleid mit einer geheimnisvollen Seite. Von da an bedurfte es nicht mehr viel, um sich selbst in diesem Kleid zu sehen – nicht auf einem Pariser Laufsteg oder am Arm eines gut aussehenden Prinzen auf einem Ball, sondern ganz allein, in einem einfachen Raum mit glänzendem Holzboden und einem Standspiegel. Dort konnte sie, die nur sich selbst gefallen wollte, das Kleid bewundern, ohne sich schuldig zu fühlen.
    Sie wartete eine volle Woche, bevor sie mit dem Rad zum Geschäft fuhr. Die ganze Zeit sagte sie sich,
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