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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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Sie konnte ihr Gesicht und ihre Füße nicht mehr spüren, und ihr Oberkörper war vom kalten Schweiß ganz nass. Sie war sich vage bewusst, dass sie Gefahr lief zu erfrieren, und versuchte, ihre Beine zu einer Bewegung zu zwingen. Doch diese waren wie Holzscheite, starr und unkooperativ. Sie blieb stehen und schaute hinab auf den Schnee. Ihr ging durch den Kopf, wie schön es doch sein musste, sich einfach in den Schnee fallen zu lassen, so wie sie den Ring hatte fallen lassen. Sich einfach in dieses weiche, glitzernde Weiß sinken zu lassen. Eine allerletzte Kapitulation. Ein süßes und endloses Empfangen-Werden.
    Und dann sah sie die Lichter erneut, zwei an der Zahl, diesmal näher als das Mal zuvor. Nun verschwanden sie nicht wieder. Sie wurden strahlender und schärfer und vertrieben auf der Stelle ihre Energielosigkeit. Die Novembristen oder die Polizei? Hannah fummelte an ihrer Pistole herum, doch ihre Hand, die im Handschuh steckte, war viel zu unbeholfen. Mit ihren Zähnen zog sie den Handschuh ab und ließ ihn in den Schnee fallen. Sie entsicherte die Pistole, legte ihre Hand um den Griff und den Finger auf den Abzug. Sie steckte die Hand mit der Pistole unter die Jacke und drückte den Lauf in die weiche Beuge ihres Brustkorbes. Sie würde nicht zurückgehen, nur vorwärts, den einen Weg oder gar keinen. Sie beobachtete die Lichter, die auf sie zukamen, zwei funkelnde Augen, zwei allwissende Himmelskörper, die ihr Schicksal in der Hand hielten. Freiheit oder Tod?
    In den Sekunden, bevor sie die Antwort darauf wusste, stellte sie sich ihr Leben vor, wie es sein könnte. Sie richtete den weißen Raum mit einem großen juwelenfarbigen Teppich ein, einem gepolsterten Sofa aus dunkelrosa Samt, einem Couchtisch aus Glas mit einer Vase roter Rosen, die in voller Blüte standen. Sie fügte Musik hinzu: Ella sang, Kayla und Paul lachten, alle drei klangen so, als hätten sie nie in ihrem Leben Leid erfahren. Kayla und Paul saßen auf dem Sofa und hielten Gläser mit granatrotem Wein in der Hand. Seine nackten Füße hatte Paul auf den Tisch gelegt, und Kayla hatte ihre unter seine Beine gesteckt. Seinen Arm hatte er um sie gelegt, und sein Daumen streichelte sanft ihre nackte Schulter, die die Farbe eines Lichtes hatte, das durch einen Bernstein gefiltert worden war. Kayla sagte etwas, und Hannah hörte sich selbst lachen, strahlend und leicht, ein Lachen, das sich mit dem von Kayla und Paul mischte.
    Die Lichter waren jetzt direkt vor ihr und blendeten sie. Der Wald und der Schnee und der Mond verschwanden, das Einzige, was sie jetzt noch sehen konnte, waren die Lichter. Sie legte ihre freie Hand über die Augen.
    »Wie ist dein Name?« Es war die Stimme eines Mannes, die dieselbe französische Melodie hatte wie die von Simone.
    »Hannah Payne.«
    »Und warum bist du hier?«
    Das hatten die Henleys sie gefragt, und sie hatte ihnen wahrheitsgemäß geantwortet. Heute war ihre Wahrheit eine ganz andere, viel reicher und lebendiger. »Weil es persönlich ist«, antwortete sie.
    Die Lichter wurden gesenkt, doch ihre Augen waren noch zu geblendet, um etwas sehen zu können. Sie hörte das Knirschen von Schritten im Schnee und entdeckte schließlich ein blasses Gesicht mit weißen Zähnen vor sich: ein Mann, der sie anlächelte. Sie ließ die Waffe los und spürte, wie sie in den Schnee glitt. Der Mann packte sie bei den Schultern und zog sie wieder hoch. Küsste ihre gefrorenen Wangen, erst die rechte, dann die linke.
    » Bienvenue , Hannah. Willkommen in Québec! Du bist jetzt in Sicherheit, und auch deine Freundin. Simone bat mich, dir zu erzählen, dass Paul sie gefunden hat und sie ebenfalls hierherbringt.«
    Dann begab Hannah sich zurück, in den Raum in ihrem Kopf, der nicht länger leer und weiß war. Sie sah ein Schlafzimmer mit schimmerndem Holzfußboden und einen Standspiegel, ein Bett mit einer dunkelvioletten Decke, hauchdünne Vorhänge, die sich in einer Windbrise bauschten und den Geruch vom bevorstehenden Frühling hereinließen. In dem Bett ruhte eine schlafende Gestalt, die von einem Strahl der Morgensonne gekitzelt wurde. Ihr Haar war lang und dunkel und lag wie ein Fächer ausgebreitet auf dem Kopfkissen, und ihre Haut war rosafarben mit einer Spur von Honig darin und würde im Sommer zu einem tiefen Goldbraun werden.
    Sie erwachte, und sie war sie selbst.
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