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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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zu verweilen, die Tür zu schließen, die Taschenlampe auszumachen und sich hinzusetzen, um seinen Geruch im Sessel, der seinen Körper unzählige Male getragen hatte, zu riechen, war groß, doch die Müdigkeit war noch größer. Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Der Raum quer über den Flur war der, den sie suchte. Sie war erleichtert. In dem kleinen Gästezimmer stand ein Doppelbett, und ein Bad war angeschlossen. Dankbar legte sie ihr Bündel auf den Boden und zog ihre Sachen aus. Beim moschusartigen Geruch ihrer Kleidung rümpfte sie die Nase. Ihr fiel wieder ein, wie sehr Farooq gestunken hatte, doch sie war zu fertig, um sich über ihn weiter Gedanken zu machen, und begnügte sich damit, Gesicht und Oberkörper zu waschen und sich die Zähne zu putzen, bevor sie erschöpft ins Bett fiel.
    Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt Pastorin Easter, sie sah, wie diese es sich in ihrem behaglichen Nachthemd in ihrem einsamen Bett gemütlich gemacht hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, betete sie für ein langes und glückliches Leben der Priesterin und wünschte ihr jemanden, der sie liebte und sie am Ende in seinen – oder ihren – Armen halten würde.
    Das rhythmische Knarren der Treppe zog sie aus ihrer Besinnungslosigkeit in die Wachsamkeit zurück. Sie wartete, hielt den Atem an und hörte, wie er oben an der Treppe innehielt.
    »Hannah!«, rief er. Seine Stimme war heiser und klang dringlich. Sie fühlte, wie seine Stimme in Blut, Gewebe und Knochen drang, fühlte, wie sich ihr Körper ihm wie eine Pflanze entgegenneigte, während sie innerlich vor Angst verzagte. Jetzt war der Moment gekommen.
    »Hannah?«, rief er wieder. Diesmal eine Frage, in der Sorge mitschwang.
    »Ich bin hier«, sagte sie. Sie hörte seinen schnellen Schritt und setzte sich im Bett auf.
    »Wo?«, rief er.
    »Hier, im Gästezimmer«, sagte sie. Die Fenster waren mit schweren Vorhängen verhängt, doch aus dem Flur fiel helles Morgenlicht in das Zimmer. In letzter Sekunde verließ sie der Mut, und sie änderte ihre Position. Sie saß jetzt mit dem Rücken zur Tür. Sie hörte, wie er auf der Schwelle stehen blieb, und spürte seine Augen in ihrem Rücken.
    »Hannah?«
    »Schließ die Tür«, sagte sie, »und lass das Licht aus.«
    Aidan gab ein Geräusch von sich, das nach Ungeduld und Verlangen klang. »Nein, meine Geliebte, bitte schäm dich nicht. Ich möchte dich sehen. Ich muss dich sehen. Meinst du etwa, es spielt für mich eine Rolle – für mich, den Mann, der an deinem Leiden die Schuld trägt –, welche Farbe deine Haut hat?«
    Sie hörte, wie er einen Schritt auf sie zuging. »Bitte nicht«, sagte sie scharf, und er stoppte.
    Ihr fiel ein Bild aus Die Schöne und das Biest ein, nicht aus der gesäuberten Version, mit der sie aufgewachsen war, sondern aus einer älteren, geheimnisvollen Geschichte, die sie in einem illustrierten Buch in der Bibliothek gefunden hatte. Es ging um ein Mädchen, das zur Heirat mit dem König der Raben gezwungen worden war und in sein Schloss zog. Der König war von einem bösen Zauberer in einen Raben verwandelt worden, und er hatte ihn dazu verdammt, sieben Jahre als Vogel zu leben. Bis dahin war es dem Mädchen nur erlaubt, ihn tagsüber zu sehen, in seiner Vogelform. Nachts, wenn er seine Federn abnahm, durfte es keinen Blick auf ihn werfen. Sechs Jahre und dreihundertvierundsechzig Tage lang lag es gehorsam an seiner Seite, ihre Körper getrennt durch ein Schwert. Doch in der letzten Nacht konnte das Mädchen es nicht mehr aushalten und wollte sehen, wie er aussah. Es zündete eine Kerze an und fand einen nackten, wunderschönen Mann neben dem Schwert liegen. Ein Tropfen Wachs fiel auf seine nackte Brust, und er wachte auf. Er erzählte dem Mädchen, dass er jetzt für immer verflucht sei, weil es seine wahre Gestalt gesehen habe. Hannah hatte niemals das gravierte Bild des jungen Mädchens vergessen, das mit aufgerissenem Mund auf das entsetzte Gesicht seines Mannes starrte, dessen Schicksal nun dem Untergang geweiht war.
    Hannah wusste, dass Aidan meinte, was er sagte. Er war sich hundertprozentig sicher, dass er eine Schöne und kein Biest erblickte, wenn er das Licht anmachte. Doch was im Leben ist wirklich hundertprozentig? Er glaubte, auf ihren Anblick vorbereitet zu sein, doch sie wusste, dass dies nicht der Fall war. Nicht mehr als sie selbst, als sie sich zum ersten Mal in der Chrom-Station im Spiegel gesehen hatte. Er würde einen Schreck bekommen,
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