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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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bewegten sich immer wieder rund um den langsam wachsenden Bau in der Mitte. Je tiefer sie grub, desto feuchter und fester wurde der Sand, und desto schwerer war es für ihre Finger, in ihn einzudringen. »Das ist tief genug!«, sagte Becca, doch Hannah hörte nicht auf ihre Schwester und grub weiter. Da unten war etwas, etwas, das sie dringend finden musste. Ihre Bewegungen wurden hektisch. Jetzt war der Sand sehr feucht und sehr dunkel, und ihre Finger waren bereits rau. Der Graben füllte sich mit Sickerwasser, es quoll über ihre Hände bis zu den Handgelenken. Sie roch etwas Übelriechendes und sah, dass es sich nicht um Wasser handelte, sondern um Blut, um dunkles, dickflüssiges Blut. Sie versuchte, ihre Hände aus dem Graben zu ziehen, doch sie blieben an etwas hängen – nein, sie wurden festgehalten und nach unten gezogen. Bis zu den Ellenbogen waren ihre Arme verschwunden. Sie schrie nach ihren Eltern, doch der Strand war leer. Nur sie und ihre Schwester Becca waren dort. Ihr Gesicht fiel gegen die Burg und ließ diese einstürzen. »Hilf mir«, bettelte sie, doch Becca bewegte sich nicht von der Stelle. Sie sah teilnahmslos zu, wie Hannah nach unten gezogen wurde. »Küss für mich das Baby«, sagte Becca, »sag ihm …« Den Rest konnte Hannah nicht mehr hören. Ihre Ohren waren voller Blut.
    Sie erwachte, und ihr Herz schlug unregelmäßig. Das Zimmer war immer noch dunkel, und ihr Körper war kalt und feucht. Es ist nur Schweiß , sagte sie sich. Kein Blut, Schweiß . Als dieser trocknete, begann sie zu zittern, und sie merkte, wie die Luft um sie herum wärmer wurde, um dies zu kompensieren. Sie wollte gerade wieder einnicken, als der Ton zweimal erklang. Die Lampen gingen an, blendend hell. Ihr zweiter Tag als Rote hatte begonnen.

 
    SIE VERSUCHTE WIEDER EINZUSCHLAFEN, doch das weiße Licht brannte durch ihre geschlossenen Lider, durch ihre Augäpfel hindurch bis in ihr Gehirn. Und obwohl sie einen Arm über ihre Augen gelegt hatte, konnte sie das Licht noch immer sehen. Wie eine brutale fremdartige Sonne, die hell in ihrem Schädel glühte. Das war Absicht, das wusste sie. Die Lichter verhinderten bei allen Insassen, außer bei einigen wenigen, den Schlaf. Und von diesen begingen innerhalb eines Monats nach ihrer Freilassung rund neunzig Prozent Selbstmord. Die Botschaft war eindeutig: War man deprimiert genug, um trotz des Lichtes zu schlafen, war man so gut wie tot. Hannah konnte nicht schlafen. Sie wusste nicht, ob sie deshalb erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
    Sie drehte sich auf die Seite. Sie konnte die Mikro-Computer in der Pritsche nicht spüren, aber sie wusste, dass sich welche darin befanden. Sie überwachten ihre Temperatur, ihren Puls, ihren Blutdruck, ihre Atmungsfrequenz, zählten ihre weißen Blutkörperchen, maßen ihren Serotoninspiegel. Private Informationen – doch in einer Chrom-Station gab es keine Privatsphäre.
    Sie musste zur Toilette, doch sie hielt es wegen der Kameras so lange wie möglich an. Auch wenn die »Durchführung der persönlichen Hygiene« für die öffentliche Übertragung zensiert war, so wusste sie doch, dass die Aufseher und die Cutter sie sehen konnten. Schließlich konnte sie nicht mehr länger warten. Sie stand auf und ging pinkeln. Der Urin, der herauskam, war gelb. Das war irgendwie beruhigend.
    Am Waschbecken fand sie Becher und Zahnbürste. Sie öffnete den Mund, um die Zähne zu putzen, und wich beim Anblick ihrer Zunge entsetzt zurück. Sie war von einem fahlen Rötlichviolett, wie ein Himbeereis am Stiel. Nur ihre Augen waren unverändert, ein dunkles Schwarz, umrahmt von Weiß. Das Virus veränderte nicht mehr das Pigment der Augen, wie es in den frühen Tagen der Haut-Verchromung noch der Fall gewesen war. Es hatte zu viele Fälle von Erblindung gegeben, und das, so hatte der Gerichtshof entschieden, sei eine grausame Bestrafung. Hannah hatte Videos dieser frühen Roten gesehen – mit ihrem leeren, starren Blick und besorgniserregend ausdruckslosen Gesichtern. Zumindest hatte sie also noch ihre Augen, die sie daran erinnerten, wer sie war: Hannah Elizabeth Payne. Tochter von John und Samantha. Schwester von Rebecca. Die Mörderin eines namenlosen Kindes. Hannah fragte sich, ob das Kind wohl die melancholischen braunen Augen, den gefühlvollen Mund, die hohe breite Stirn und die durchscheinende Haut seines Vaters geerbt hätte.
    Ihre eigene Haut fühlte sich klebrig an, und ihr Körper roch säuerlich. Sie ging in den Duschtrakt. An
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